Das vergessene Potenzial – Warum wir jetzt kunsteln müssen

… Gedanken zur Wiederbelebung eines Zukunftsgestalters.

 

Bonn, 17. Dezember 1770. Geboren ist der erste Künstler. Um genauer zu sein, ist es vermutlich sein Taufdatum, das eigentliche Geburtsdatum ist nicht bekannt. Mit ihm – Ludwig van Beethoven – nimmt die Kunst eine gestalterische Rolle ein. Beethoven, bereits in jungen Jahren begabt, wird sich später nur der Kunst kompromisslos verpflichten.

Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein. Theodor Adorno

Beethoven ist frei. Bis zu dieser Befreiung war die Kunst überwiegend »Techne«, jene altgriechische Beschreibung einer europäischen Philosophie von Kunst, Wissenschaft und Technik – sie war Handwerk.

Johann Sebastian Bachs Passionen und Oratorien Jahre davor symbolisierten eine handwerkliche und ökonomische Auftragskunst, die den Anforderungen der Kirche und der Routine des Kirchenkalenders unterlag. Es waren Soundtracks für die Sonntagsgottesdienste, entstanden in einer Manufaktur. Ähnlich hatten in der bildenden Kunst schon Lucas Cranach, Peter Paul Rubens oder Rembrandt van Rijn gearbeitet. Kein Werk ohne Auftrag. Beethoven war der Erste, der nicht den Auftrag, sondern den Ausdruck suchte. Er ließ sich nicht anstellen, er wollte gestalten. Mit ihm verlässt die Kunst die begleitende Rolle und erkundet ihr Potenzial.


DAS DENKEN LERNEN

Kunst stellt Potenzial des Denkens dar, und die Schöpfung wird zum Ausdruck des Gedankens. Der Gedanke kann entstehen, die Kunst wird Ausdruck einer Erfahrung, die im Kunstwerk vermittelt wird. So findet die Kunst im Verein mit der Philosophie ihre gestalterische Rolle. Selbstverständlichkeiten werden auf ihre Funktionalität hinterfragt – es wird über die Kunst nachgedacht. 

In der Ästhetik findet unter anderem auch Hegel den Bezug zum geistigen Anliegen.  Über den Ausdruck hinaus geht es bei Hegel vor allem um das Verstehen. In den folgenden zweihundert Jahren werden Künstler für ihre Werke – auch Beethoven erging es so – erst posthum anerkannt und verstanden. Sie lebten »zwischen den Paradigmen«. 

KUNST IN ZEITEN DER TECHNOLOGISCHEN ALLWISSENHEIT

Welche Rolle hat die Kunst heute? Ist dieses gestalterische Potenzial verloren gegangen, oder sind wir in unserem Reaktionismus so gefangen, dass wir den Künstler als Aufklärer nicht erkennen?

Um 1970 herum kehrt die Kunst zu Gefälligkeit und Ökonomisierung zurück. Sie wird begleitend. Pablo Picasso wird eingeladen und soll anlässlich seines 90. Geburtstags im Louvre geehrt werden, als erster Künstler, dem schon zu Lebzeiten eine Retrospektive gewidmet ist. Die Kunst ist wieder gegenwärtig und gefällig. Das Gestalterische an der Kunst ist aber nicht das Objekt, sondern die Irritation, das Wachrütteln. Die Wahrnehmung eben, die über die Kunst geschärft das Denken an sich auslöst.

In den Siebziger Jahren entdeckte man – im Rahmen der Frauenbewegung – die gestalterischen Kreationen von Frida Kahlo. Posthum sind Kunstwerke sowohl »größer« geworden als sie in ihrer Zeit verstanden wurden. Ist das heute überhaupt noch möglich? Vivian Westwood, Madonna oder Street-Art à la Banksy – die Kunst strebt heute danach in ihrer Zeit verstanden zu werden, um zu gefallen. Sie regt auf, aber sie irritiert nicht. Sie erzeugt Emotionen und wirkt, aber sie gestaltet nicht. Sie ist gegenwärtig, aber nicht »zukünftend«. Der Like, der Verkauf, die sofortige Bestätigung einer kollektiv-subjektiv gefühlten Meinungsäußerung mit Ökonomiezuschlag. So äußert sich die in ihrer Zeit gefangene Gefälligkeit: Wo Kunst Neues repräsentiert, findet es in den Grenzen der Gegenwart statt. Die Kunst ist zu einem ästhetischen Asset mit dem Like-me-Potenzial für die Dekadenzgesellschaft degradiert.

Die Kunst nun aber ist deshalb die erste näher gestaltende Dolmetscherin der religiösen Vorstellungen, weil die prosaische Betrachtung der gegenständlichen Welt sich erst geltend macht, wenn der Mensch in sich als geistiges Selbstbewusstsein sich von der Unmittelbarkeit frei gekämpft hat, und derselben in dieser Freiheit, in welcher er die Objektivität als eine bloße Äußerlichkeit verständig aufnimmt, gegenübersteht.


Um diese zu verinnerlichen, brauchen wir ein Verständnis für die Kunst über den reinen Erwerb hinaus. Die Kunst selbst kann (wieder) eine Rolle spielen. Als gestalterisches Kulturprodukt. In ihrer absoluten Reinheit lebt sie zwischen der Zeit, zwischen Paradigmen und kann in ihrer Zeit nicht verstanden werden. 

Doch nicht die Untätigkeit, sondern die Lebendigkeit ist das, was ihre Rolle ausmacht: die zerstörerische Kreation in der Zeit.

DER KÜNSTLER IN DER TECHNOLOGISCHEN META-MODERNE

Wie werden wir also Künstler? Wie können wir im hegelschen Sinn unsere Gedanken erfassen mit der zeitlichen Perspektive einer Vergangenheit – des Umgangs mit unseren Selbstverständlichkeiten – und zugleich einer Weltverständlichkeit?

Was macht der Künstler? Er beschäftigt sich mit der Welt. Er setzt sich mit ihr in Form des individuellen Ausdrucks auseinander. Das ist ein künstlerischer Verstehensprozess. Dieser ist geprägt von einem Balanceakt zwischen der reizüberfluteten Welt und dem einsamen Dasein, abgeschieden von der Welt im Atelier. Der Künstler braucht die reizüberflutete Welt, die er mit all seinen Sinnen aufnimmt. Ohne diese keine für den künstlerischen Akt so wichtige Inspiration. Er braucht aber auch die Abgeschiedenheit und Stille seines Ateliers. Ein Leben zwischen Vita activa und Vita contemplativa, das ist die Lebensform des Künstlers, bei dem er aber nie eine absolute Balance erreichen kann, denn der Ausdruck lebt. 

KUNST ALS KRÖNUNG DER SCHÖPFUNG

Das Verstehen ist ein mühsamer Prozess, der mit viel Frust und Leid verbunden ist. Doch dieser ist existenziell wichtig, denn nur dadurch ist der Künstler jemand. Das ist sein Lebensglück. Während die Kunst des Künstlers Ecken und Kanten hat, abstoßend, vieldeutig und auch nicht immer einfach zu fassen ist – wie das Leben –, ist das, was der gefällige Künstler produziert, platt, ohne Widerstand, einfach zu verdauen, letztlich konsumierbar und affirmativ. Letztere Form von Kunst eckt nicht an und bietet damit kein Reibungspotenzial, das zur Auseinandersetzung einlädt.

Das will die flache Kunst auch nicht. Sie scheut die Auseinandersetzung. Letztlich kann sie es auch nicht, da sie nichts ist. Ihr fehlt die Substanz. Wie denn auch, wenn sie fortlaufend vom Künstler entäußert wird? In ihr hat sich nichts aufgebaut, nichts entwickelt. Durch sie wurde nichts erschaffen. Diese Kunst ist nicht das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Sie ist gleichsam nihilistisch. Sie will gehört werden, sie will Aufmerksamkeit. Das ist ihre Bestrebung. Sie nutzt die Welt aus für die eigene Aufmerksamkeitsgenerierung. Zwischen der Ware Kunst und der Welt herrscht ein instrumentelles Verhältnis. Das unterscheidet die Ware Kunst von der wahren Kunst.

Letztere ist von einer zerstörerischen Kreation getrieben. Sie nimmt das Bestehende auseinander und erschafft daraus etwas vollkommen Neues, Fremdartiges. Doch das Neue ist lediglich ein Augenblick, weshalb dieser Augenblick wieder vom Künstler durch sein künstlerisches Schaffen durch die zerstörerische Kreation transzendiert wird. Vielleicht als Krönung dieser Schöpfung versteigerte Salvatore Garau seine »unsichtbare Skulptur« für 18 300 US-Dollar. Kunst buchstäblich aus nichts gemacht. »Es ist eine Arbeit, die Sie auffordert, die Kraft der Vorstellungskraft zu aktivieren«, so der italienische Künstler. Der künstlerische Akt ist folglich der Vollzug von Wirklichkeit. Kunst ist Zeitlichkeit, während die Ware Kunst in der Totalität der Gegenwart verhaftet bleibt. Ist die Welt eine Repräsentation der menschlichen Vorstellungskraft, so ist Garaus Werk die Krönung der Schöpfung.

GÄNSEHAUST LÄSST SICH SCHLECHT WEG GÄNSEN

Brauchen wir aber den Ausdruck, so braucht die Kunst eine Reaktion, eine Gänsehaut. Mit der Gefälligkeit und den »Likes« entsteht keine Gänsehaut, ein »Gefällt-mir« kann aber aus Gänsehaut entstehen. Indem Kunst zum »Anything goes« gesellschaftlicher Beliebigkeit zerstäubt wurde, hat sie die Fähigkeit zur Irritation verloren – die schöpferische Kraft zu gestalten. Vielleicht lässt sich eine Selbstoptimierungsgesellschaft nur noch dadurch irritieren, indem ihre Absolutheiten, die sich in einem Hang zum Messbaren niederschlagen, infrage gestellt werden – auch in einer Kunst, wo sich seit Neuestem Einzigartigkeit in Blockchain-basierten NFTs (Non-Fungible Token) manifestiert.

Mit der Gefälligkeit verliert die Kunst auch ihre gestalterische und hinterfragende Komponente. Wir brauchen das Ingenieurwesen für die Umsetzung und Psychologie, Philosophie und Kunst für die Gestaltung. Einst entsprang das Feld der Psychologie aus der Philosophie als »Lehre der Seele« und als Teil des Gestalterischen, jedoch tendiert die technologische Entwicklung meiner Überzeugung nach – auch wenn einige mir bestimmt widersprechen werden – hin zum Messbaren, folglich zu einer Verschmelzung mit den Neurowissenschaften. Die Psychoanalyse und die Psychologie sind somit im technologisch-naturwissenschaftlichen Bereich gelandet. Was wahrgenommen und empfunden wird, lässt sich zunehmend messen. Wie und wann Neuronen feuern, ebenso. In der Verschmelzung von Psychologie und Psychoanalyse mit dem neurowissenschaftlichen Bereich und der »Krise« der Philosophie ist es die Kunst, die in einem »magischen Dreieck« das Ingenieurwesen supplementieren muss. 

Gesucht werden Menschen, die Menschen verstehen, Kulturingenieure. Auch in der Gestaltung und auf dem Weg zur Heilung nimmt der Kulturingenieur eine Rolle als Wegbegleiter ein.

Eine Wiederbelebung der Kunst als Zukunftsgestalter ist heute ein humanistisches Grunderfordernis. Wird es nicht erfüllt, bleibt die Philosophie als Wegbegleiter auf dem Weg zu Heilung allein – als fundamentale Wissenschaft und als eigene Kunstform.

Lass uns kunsteln.

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