ETHIK UND MORAL OHNE RELIGION – Wie geht das?
ETHIK UND MORAL OHNE RELIGION – Wie geht das?
Bibel, Edda, Koran, Thora, ja viele religiöse Schriften über die Schöpfung sind Hüter historischer Mythen und Erzählungen sowie Quellen grundlegender Weisheiten. Ist es aber im 21. Jahrhundert zeitgemäß, ethische und moralische Grundsätze in Bilder wie der Wiederauferstehung, der göttlichen Wasserwanderung, der Teilung des Meeres oder der jungfräulichen Geburt zu verhüllen? Ethische und moralische Grundsätze ließen sich von der Erzählung Jesus von Nazareth als jungem Leader, als Vorbild und Sammelpunkt von Weisheit entkoppeln, wenn wir uns als Weltgemeinschaft auf das Wesentliche verständigen könnten. Die Frage, die sich dann aber stellt: Was ist das Wesentliche? Und, als Nebenbemerkung wäre zu erkunden: Wie kommen wir dahin?
„Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet” , schrieb Nietzsche und fand im Christentum eine lebensfeindliche Religion, die sinnentleert war. Seit langer Zeit, auch in Deutschland und sonst in Europa, hat man das Gefühl, Religionen sind auf dem Rückzug, vor allem das Christentum. Aber auch wenn die Zahlen nicht so stark rückläufig sind, wie man sich das vorstellt, und der Islam sogar eine wachsende Glaubensgemeinschaft ist, scheint es so, dass mit der gegenwärtigen Entwicklung liberaler Demokratien die Religion schwindet oder bereits verschwunden ist.
Schauen wir nach Skandinavien, wo die kleinen, raschen und adaptiven Wohlstandsoasen für technologische und gesellschaftliche Entwicklung längst auf dem Weg sind, Staaten eines nicht gläubigen Atheismus (agnostischer Atheismus) zu werden. In Schweden geben bereits drei Viertel der Bevölkerung an, keinen Bezug zu einer Religion zu haben. Im IKEA-Land werden sogar die ersten nicht religiösen Friedhöfe eingerichtet. Auch wenn Pandemie und Krieg sicherlich Einfluss auf einen Halt gebenden Glauben haben, die Religion scheint angesichts der gegenwärtigen technologischen Entwicklung als stabilisierender Faktor für ein ethisches Rahmenwerk nicht die passende Lösung zu sein.
Und, warum muss mein Glaube ein kollektiver sein? Führt dies nicht zu einer historischen Spaltung in einer Welt, in der es darum gehen sollte, ethische Rahmenbedingungen und ein gemeinsames Verständnis für moralisches Handeln auf globaler Ebene zu erreichen? Im historischen Kontext sei auch die Frage erlaubt, ob eine Kategorisierung in Form von Religionen förderlich oder eher hinderlich für eine moralische (Weiter-) Entwicklung der Menschheit war. Denn betrachten wir die Geschichte der Religionen, stellen wir fest, dass sie häufig die Quelle unzähliger Konflikte sind. Religionskriege, Verfolgung von religiösen Minderheiten, die Liste ist Lang. Im ‘Google-Universum’ von Mark Twain bis Jassir Arafat wird das in etwa so häufig zitiert: “Bei Religionskriegen geht es darum, dass (erwachsene) Menschen sich darüber streiten, wer den größten imaginären Freund hat.”. Das große religiöse Versprechen, so erscheint es mir, wurde aber nicht erfüllt: Liebe für alle, Hass für keinen erschöpft sich als Sinnspruch auf Auto-Stickern. Im 21. Jahrhundert scheint es unerklärlich, warum Religion und eine Bindung zu Gott erforderlich sein sollten, um zivilisierte Diskussionen zu führen, Introspektion zu lernen, sich von Selbstverständlichkeiten zu befreien und Weltverständlichkeiten anzustreben. So stellt sich die Frage: Müssen wir uns dogmatischen Weltanschauungen entgegenstellen? Verhindert Dogmatismus nicht von vorn herein Veränderung?
Das Individuum steht immer in Relation zum Kollektiven, sei es in der Behauptung “Die Natur regelt sich selbst” oder im christlichen Versprechen, wo Normen mit dem Willen Gottes begründet werden. Wenn das Göttliche von den Religionen entkoppelt und sogar zum Teil technologisiert wird, dann stellt sich die Frage, welche Rolle die Theologie in einer Optimierungsgesellschaft der Vollökonomie überhaupt noch spielen kann, die von und mit der Technologie getrieben und gestaltet wird.
Das ethische Verhalten beruht auf kognitive Empathie und Mitgefühl, Bildung, Bedürfnissen des Individuums und auf kollektiven und (sozialen) Bindungen. Dafür ist aber keine religiöse Zuordnung oder Grundlage erforderlich. Ist eine solche Kategorisierung in der globalen interdependenten Welt von vielleicht sogar heute Teil des Problems und nicht Teil der Lösung? Galten einst dicke Bücher als das Fundament für “Best of Moral”, so dienen heute religiöse Schriften zwar zweifellos als gute Grundlage für ethische Gedanken und ethisches Handeln, sie stellen aber keine Absolutheit dar, was sich in der Moderne als “Technologie–Induzierte Aufklärung 2.0.” – Eben ein Re-Enlightenment als Überwindung der pluralistischen Ignoranz (… das Endarkenment).
Die Suche nach Gott wurde abgeschlossen, für die Schöpfung reicht die Physik, so könnte man das im Nietzscheanischen Sinne beschreiben. Man muss sie nur verstehen, oder wir akzeptieren das Göttliche als das, was es ist: göttlich.
Glauben und das Göttliche können eine essentielle Rolle für Halt und Stabilität spielen. So nimmt die Suche nach dem Schöpfer nicht in der Geschichte – unserer Vergangenheit – Platz, sondern sie manifestiert sich vielmehr in der Schöpfung selbst. Die Reise inmitten des technologischen Tsunami auf dem Weg zu einer möglichen Singularität führt nicht von uns aus einem – wie auch immer gearteten – göttlichen Verständnis, sondern vielmehr zum oder in das Göttliche, vielleicht in einer möglichen Verbindung mit der Technologie – Deus ex Machina – Gott in/aus der Maschine.
Für das Miteinander im 21. Jahrhundert brauchen wir deshalb ein neues Rahmenwerk, und dafür wird die philosophische Kontemplation benötigt. Die Paradoxie aus individueller Freiheit bei gleichzeitiger moralischer Verpflichtung, in das Allgemeinwohl einzuzahlen, führt zurück über den kategorischen Imperativ Kants (“Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde”) bis zur Suche der Vernunftwesen bei den Sophisten im 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr. Die Herausforderung entkoppelt von der Religion lautet: how to get along.
Von Plato, über Immanuel Kant bis Fjodor Dostojewski, die Herausforderung in der Ethik und dem moralischen Umgang miteinander wurde in der Tiefe beleuchtet. Auch ohne göttlichen Auftrag hat der Mensch ein Gefühl für Recht und Unrecht und strebt nach moralischen Prinzipien. In der Umkehrung steht die Frage: braucht der Mensch für eine moralische Integrität ein Gesetz Gottes? Viele Menschen in den USA und anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften sagen, dass es nicht notwendig ist, an Gott zu glauben, um moralisch zu sein…
Je fortgeschrittener eine Volkswirtschaft ist, desto mehr glauben die Menschen, dass moralisches Handeln ohne Gott möglich ist. Schweden 90%, Australien 85%, Frankreich 77%, England 76%, und auch in den USA sagen ⅔ sie glauben, moralisches Handeln sei ohne Gott möglich. Die Zahlen sprechen für sich. Verfügen wir Menschen über einen inneren moralischen Kompass, aber lassen uns durch von Menschen gemachte Konstrukte ablenken? Sind wir, wie Rutger Bregman schreibt, “im Grunde gut” und werden für unmoralisches Verhalten von der Gemeinschaft zur Rechenschaft gezogen?
Welche Rolle spielt also die Religion im 21. Jahrhundert, in dem es so scheint, als würden die Fortschritte in Physik, Philosophie und Ökonomie zu neuen Technologien führen? Technologien, die es den Menschen – zumindest in der Theorie – ermöglichen, dabei zu helfen, ein glückliches und funktionierendes Leben zu führen? Es ist nicht so, als wären in den Religionen und Büchern nicht fundamentale Grundlagen für moralisches Handeln zu finden. Die Frage ist nur, ob Gott dafür erforderlich ist, bzw. ob eine Spaltung in Form von Kategorisierungen noch die richtige Form ist.
So stelle ich die These auf, dass Menschen in der Lage sind, ethisch und moralisch zu handeln, ohne Religion oder Gott. Können wir mit den vorhandenen Möglichkeiten, gepaart mit der Befreiung von alten Selbstverständlichkeiten, vielleicht eine neuen säkularen Humanismus formen? Dabei geht es mir darum, durch Technologie und Ökonomie eine humanistische Lebensführung anzustreben, die der einzigartigen Verantwortung, die die Menschheit trägt, gerecht wird und die moralischen Konsequenzen menschlicher Entscheidungen formt.
Diese Herleitung ist eine Beobachtung losgelöst von jeglicher Erwägung, ob Menschen von Natur aus böse oder grundsätzlich gut sind. Sie ist ebenso befreit von einer spirituellen Sichtweise, die den Menschen “über die Natur” stellt. Kant hat hier den Weg des menschlichen Denkens als Grundlage für moralisches Handeln vorgeschlagen. Ein säkularer Humanismus beruht aber auch auf der Infragestellung der Kategorie selbst, die von jedem Menschen subjektiv immer wieder neu geprüft werden muss und nicht kategorisch als Glaubensform angenommen oder abgelehnt werden kann. So ist diese Haltung ein Streben nach einem dynamischen Equilibrium, das im gemeinsamen Tanz von Philosophie und Physik den positiven Fortschritt für die Menschheit zum Fundament hat.
So ist die post-kantische Debatte eine ökonomische und technologische sowie eine atheistische. Im Spannungsfeld zwischen (Selbst-) Optimierungsgesellschaft und einer reaktiven und müde gewordenen Untätigkeitsgesellschaft folgt, dass moralisches Handeln anreizkompatibel sein muss. Somit steht es in direktem Widerspruch zur aktiven “(Mit-)Gestaltung der Gesellschaft, dass moralisches Handeln im Sinne des Allgemeinwohls und der Vollökonomisierung, verbunden mit einem Nutzen- und Besserstellungsversprechen für das Kollektiv für das Individuum gleichzeitig einen Anreiz zur Aktivierung schafft.
So ließe sich eine mathematisch bessere Welt – dynamisches Equilibrium – kognitiv verbreiten, wenn die gewählte bessere Welt durch eine errechnete bessere Welt ersetzt wird. Jedoch kann ein solches dynamisches Equilibrium nur mit der Befreiung von Selbstverständlichkeiten und dem Absoluten erreicht werden. Die Ausübung eines Glaubens bleibt im Privaten, und es muss uns gelingen, ohne religiöse Spaltung zur Solidarität zu gelangen. Auf ein Regelwerk, gestützt auf “was Gott gutheißt”, muss eine agnostisch atheistische Ethik auf Vernunftsbasis folgen.
Ich persönlich finde hier den ‘Mit-Menschen’ als Ausgangspunkt für weitere Erkundungen vielversprechend. Der Mensch, der mit anderen Menschen bewusst zusammenlebt und sich so als interdependentes Individuum versteht, das nicht einer Unabhängigkeitserklärung, sondern vielmehr einer Declaration of Interdependence (Die Interdependenz-Erklärung der Menschheit) verpflichtet fühlt. Der Mit-Mensch, der sich mitmenschlich verhält, ist dennoch ein eigenständiger Mensch – ein Subjekt. Die Handlungen jenseits des rein Individuellen ermöglichen es, in der technologischen Entwicklung, in der wir nun die Evolution in die Hand nehmen, Herr und Frau unseres eigenen Schicksals zu sein und somit als “Herde” die Chance zu haben, diesen technologischen-Evolutionsprozess als Mensch zu bestehen. Dieser ‘Säkulare Utilitarismus’ – “dass Menschen eine innere Tendenz besitzen, auf eine Weise zu handeln, die das größte Maß an Glück für die größte Anzahl von Menschen bewirkt” – ist eine Basis für das Fortbestehen der Menschheit auf dem Weg zur möglichen technologischen Singularität – davon bin ich überzeugt. Demzufolge scheitert die ethische Grundlage unserer Gesellschaft nicht an der mangelnden Religion, sondern in der post-kantischen technologischen Welt an zwei wesentlichen Begriffen des kategorischen Imperativs “Handeln” und “Wollen”. Was tut der Mensch – strengen wir uns genug an? –, und was will der Mensch wirklich? in einer Welt, in der uns Technologie – zumindest theoretisch – alles ermöglichen wird.
Kurzum: Wir müssen einen Weg finden, miteinander auszukommen, und zugleich einen neuen Existentialismus hervorbringen – den Vita-Existentialismus. Es geht darum, wie es Captain Teague seinem Sohn – dem großen Philosophen Captain Jack Sparrow – mit auf den Weg gibt: “The Trick is not living forever Jackie, the Trick is living with yourself forever”, wir müssen also auch möglichst lange mit uns selbst klarkommen.