KÖNIGIN KAPITALISMUS – Ein Davos fazit

KAPITALISMUS. RETTET DIE MENSCHHEIT!
Ein Davos-Fazit

Folgen wir der publizistischen Wahrnehmung im Vorfeld, so war Davos 2024 zunächst so etwas wie ein Krisentreffen. Vertrauen wiederherstellen. In Wissenschaft, Politik und vor allem der Wirtschaft. Das war das Kernthema des diesjährigen Weltwirtschaftsforums. Während der Woche wurde aber vor allem eins klar: Das Weltwirtschaftsforum ist Schaulauf und Wettbewerb des globalen Kapitalismus geworden. Wirtschaft macht Wandel.

Technologischer Turbo-Kapitalismus amerikanisch-individualistischer Prägung trifft auf Staatskapitalismus in neuer roter Tracht, der rasante Aufstieg des Cash-Is-King und Show-Kapitalismus des mittleren Osten – vor allem Saudi-Arabischer Art. Schleichend dahinter entwickelt sich eine neue Indien-Sehnsucht. Die stille Supermarkt »kann mit jedem« und bietet Investment-Opportunitäten als Alternative zu den drei Platzhirschen.

Aber wo bleibt Europa, und vor allem welche Rolle nimmt Deutschland ein? Erhardts »Wohlstand für alle« war einst das Evangelium für alle, die Kapitalismus mit sozialer Verantwortung suchten, und das Deutsche Wirtschaftswunder war wie eine Offenbarung. Doch angesichts neuer Technologien haben sich den Menschen längst andere Wunder offenbart, und hierzulande wurde eine Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt: Wohlstand ist kein Naturgesetz.

USA First

Noch ist das Selbstbewusstsein groß, noch führt the american dream den technologischen Wettkampf an. Als neue globale Lichtgestalt führt Satya Nadella Microsoft in Richtung einer 3 Billionen Bewertung. Das Unternehmen hat Apple abgelöst als wertvollstes Unternehmen der Welt und schaut mit seinem neuen KI-Fokus nicht mehr zurück. Politische, technologische Lösungen wie die von Palantir, die Events mit neuer Quantum Technologie, die Investoren-Netzwerke und die Präsenz der Chefetagen aller NASDAQ 100 Unternehmen sind beeindruckend. USA ist noch »the place to be«. Die Events und Nachrichten der US-amerikanischen Medienhäuser Wall Street Journal, Politico und Bloomberg dominieren auch in Davos. Auffällig ist dennoch auf der Promenade und bei Abendempfängen, dass die lauten, prahlenden und so selbstbewussten Amerikaner erkennen müssen, sie sind nicht mehr allein an der Spitze in Sachen Technologie und Fortschritt.

The New Kid(s) on the Block

Strategische Technologie-Investments locken Unternehmen an. Saudi-Arabien schleicht sich mit noch sprudelnden Ölmilliarden – wir kaufen alles auf – und einer Weitsicht ins Geschehen, die aus der Erkenntnis geboren ist, dass die fossilen Reichtümer endlich sind. Nirgendwo in Wirtschaft und Geopolitik spielt der Mittlere Osten nicht mit. Und, wie sollte es anders kommen, Saudi Arabien kündigte am Donnerstag an, sie werden Ende April ein zweitägiges Weltwirtschaftsforum Spezial veranstalten, um das globale Profil des Königreichs und seiner Hauptstadt Riad zu stärken.

Mitte November reisten 97.000 Menschen zur UN-Klimakonferenz nach Dubai zum Cop 28. Klimaaktivisten und Medien äußerten Kritik: falscher Ort und eine Verdoppelung der Reisenden! Zum Cop 27 ein Jahr zuvor kamen »nur« 50.000 Teilnehmer. Die Schlagzeilen konzentrierten sich auf Privatjets und Umweltverschmutzung, Werteverständnis und »Greenwashing«, und alles schien schlecht. Das große Ziel, die Nutzung fossiler Brennstoffe auslaufen zu lassen, konnte auch 2023 nicht verabschiedet werden.

Doch es gibt auch eine andere Betrachtungsweise: Doppelt so viele Menschen aus neuen Regionen und Ländern – die Kapital mitbringen – reisen in eine Region, die sich im Wandel befindet. Die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Saudi-Arabien sind alles andere als perfekt nach europäischem Wertmaßstab, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass auch hier in den letzten zehn Jahren eine beachtliche Entwicklung stattgefunden hat, u.a. berichtet die ehemalige österreichische Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaft über großen Fortschritt in Sachen Frauenrechte.

Vielleicht werden durch einen großen COP in Dubai mehr »schwarze Schafe« weiß, auch wenn dabei ein wenig »gewaschen« werden muss… Als kognitive Irritation: Zum letzten Oktoberfest reisten 7,2 Millionen Menschen an. Die COP war auch nicht klimaneutral, noch war sie effizient – die Welt ist nicht perfekt –, aber wo und wie findet Wandel statt?

Diese Frage ist relevant und zumindest aus deutscher und europäischer Sicht von größter Bedeutung. Auf der Davoser Promenade inszenierte Saudi-Arabien ganze fünf Häuser mit hochwertigem Design und Technologie. Zukunftsprojekte, die an Science Fiction erinnern, werden vorgestellt. Was nach Utopie aussieht, ernüchtert hinter den Kulissen mit Chaos und großer Baustelle. Aber es wird gebaut!

Beijing is Back

Premier Li Qiang präsentiert einen Fünf-Punkte-Plan für Vertrauensaufbau und reist nach Corona erstmals wieder mit einer großen Delegation in die Schweizer Berge. China mit seinem staatskapitalistischen Turbo, häufig als kurzfristig und druckvolles Deal-Making wahrgenommen, ist zurück auf der globalen Bühne. Delegationsreisen finden überall in Europa statt und die amerikanische Regierung schaut genauer hin. Steht Wirtschaftswachstum über Werten?

China ist aber mehr. Die Volksrepublik ist heute längst nicht mehr die verlängerte Werkbank und Joint-Venture-Partner für ausgelagerte Arbeitsmärkte westlicher Brands. Das Kapital sitzt (noch) nicht so locker wie vor Corona, aber während der WEF-Woche finden zahlreiche Hintergrundgespräche statt, und die Chinesische Delegation ist seit neuestem tief im Schweizer Strategienetzwerk verflochten und zeigt auf, wie Innovation und Fortschritt gelingen kann.

Sexy, innovativ und bezahlbar – so präsentieren sich die neuen Mobilitätskonzepte aus China. Der schlafende deutsche Riese muss anfangen, sich zu bewegen. »Wettbewerb belebt das Geschäft«, so lautet die alte Weisheit. Aber hier reicht eine Reaktion nicht. Zwar liefert die Deutsche Bahn die Energie für die Ladesäulen im Herzen Frankfurts, die E-Busse stammen aber aus China – Build Your Dreams (BYD). Neue Anbieter entstehen, und neben Musk mit seinem Tesla dringen asiatische Marken in das Herz der deutschen Automobilindustrie. NIO mit einem Produktionsstandort in Berlin und einem Showroom in München, BAIC, das ein Joint Venture mit Mercedes und Hyundai eingeht, und SAIC, der größte Autohersteller Chinas, setzen Hunderte von Milliarden um. Über Nacht sehen wir BYD auf deutschen Straßen – ein Unternehmen, das bereits in Absatzzahlen an Tesla heranreicht und mehr als doppelt so viele Elektrofahrzeuge verkauft wie VW.

Ab 2035 ist der Verkauf von Verbrennermotoren in Europa verboten. Das mag nicht schnell erscheinen, ist aber dennoch ein Funken Hoffnung auf Fortschritt. China geht es allerdings nicht schnell genug. Bereits ab 2025 werden Elektroautos – mit heutiger Technologie – günstiger als Verbrenner über ihren gesamten Lebenszyklus sein. Die Gesetze werden Verbrenner nicht beseitigen. Fortschritt, Technologie und Marktwirtschaft werden die alten Autos zu Grabe tragen.

Fortschritt und Investitionen in neue Treibstoff-Strukturen wie Wasserstoff, Aufrüstung in Design und Technologie: China ist nicht nur günstiger. Es liefert heute Qualität und in ansprechender und funktionaler Gestaltung. Die Marktwirtschaft roter Prägung zeigt auf, dass das Modell »Staatskapitalismus« beim vermeintlich unerreichbaren Wettbewerbsvorteil Innovation und Qualität nicht nur mithalten, sondern auch führen kann.

Wie viele ähnliche Erzählungen können wir hier finden?
Die Antwort lautet aus deutscher Sicht leider: Einige.

Was bleibt vom »kranken Mann«?

Das AI House – dessen Initiatoren zumindest zum Teil aus Deutschland und Europa stammen – scheint ein Erfolg gewesen zu sein. Sonst findet sich nur das kleine, aber sympathische »Belgien-Haus«. Attraktion: Bier und Pommes für alle. Happy-Hour 18:00 Uhr. Geschmacklich ein Highlight, aber im globalen Wettkampf um Technologie und Fortschritt sicherlich nicht der Gipfel der Genüsse.

Während der Woche berichten deutsche Medien, »Deutscher Windausbau nimmt Fahrt auf«. Es wird geschätzt, dass in Deutschland etwa 40.000 Windräder benötigt werden (unter Einbeziehung älterer Generationen und Wartung). Das klingt nach unglaublich vielen. Mit Genehmigungsverfahren, die sich über bis zu 8 Jahre ziehen und mit langwierigen und komplexen Diskussionen einhergehen, sowie mangelnder Risikobereitschaft und Investitionszurückhaltung fragt man sich, wie das funktionieren soll. »Das Geld ist da«, sagen die Spezialisten, doch alles dauert zu lange.

Überraschenderweise zeigt sich jedoch: Es funktioniert. Deutschland hat heute bereits über 30.000 Onshore-Windräder gebaut! Und das ist nur der Wind vom Land und nicht das Potenzial von Offshore-Wind und die unglaublichen Möglichkeiten der Photovoltaik oder anderer Energieformen für eine grüne Zukunft.

2023 wurde ein neuer Rekord für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen aufgestellt. Fast 60 Prozent des Stroms wurde »nachhaltig« produziert, ermittelte das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE). Die Menge an Strom aus fossilen Energieformen ging zurück auf ein Niveau aus den 60er Jahren. Und es wurde weitere Energie importiert, weil deutsche Kohleenergie schlicht nicht wettbewerbsfähig ist. In einer Zeit der Dekadenz und mangelnder Leistungsbereitschaft, welche Zukunft wird antizipiert? Was glauben wir? Was könnten wir erreichen, wenn es uns gelänge, eine neue Leistungskultur zu entwickeln und die Geschwindigkeit zu erhöhen?

Glauben wir an eine Leistungssteigerung in Sachen Speicher und Distribution? Glauben wir an mehr Ausbau? Fortschritt der Technologie? Wenn ja, warum gelingt es nicht, eine solche Zukunft zu antizipieren? In den nächsten Jahren wird der Bedarf an Batterien und neuen, alternativen Formen der Energie um das Dreifache steigen. Parallel werden neue große Projekte initiiert. Kurzfristig ein globaler Wettkampf um Ressourcen und neue Marktanteile, mittel- und langfristig jedoch eine Verschiebung der globalen Wettbewerbsfähigkeit.

Wesentlich ist nicht, wann das Ablaufdatum für fossile Energiequellen erreicht ist. Wichtig ist es allenfalls als Vision, aber deutlich wichtiger als ein beliebig benannter Zeitpunkt werden die Konsequenzen dank technologischer Fortschritte sein. Sie markieren, wann diese Formen der Energieerzeugung nicht mehr wettbewerbsfähig sein werden. »Kostenloser« grüner Strom für alle in Sicht. Neue Geschäftsmodelle werden entstehen. Und zumindest ist absehbar, dass sich nach dem raschen Anstieg auch die Grenzkosten für Energie ähnlich verhalten werden wie die Grenzkosten im Zugang zu Wissen – Intelligenz – im vergangenen Jahr. Anfang des nächsten Jahrzehnts werden sie rasant in Richtung null gehen.

Glauben wir in Europa ernsthaft, dass wir eine technologische Entwicklungsstufe erreicht haben, auf deren Basis wir jetzt zukunftsfähige Geschäftsmodelle konzipieren? Sind GPT-4 und aktuelle Batteriestandards die Grundlage für zukünftige Berechnungen? Oder antizipieren wir eine Welt, in der Quantenkünstliche Intelligenz erreicht wird? In der neue Speicher und Distributionsstrukturen entwickelt werden? Wir haben kein Energieproblem, wir haben ein Speicher- und Distributionsproblem. Und, wenn das gelöst scheint, was bedeutet das dann für Deutschland und Europa?

Es mag vielleicht zynisch sein, darüber nachzudenken, was ein antizipiertes Zukunftsszenario der Ukraine ist, inmitten eines Krieges. Aber bleibt die Existenz der Ukraine gesichert, so wird ein Wiederaufbau folgen. Das Deutsche Wirtschaftswunder, Silicon Valley. Die Geschichte wird sich dann wiederholen.

Was wären die Folgen? Der ukrainische Außen- und Digitalminister kommt nach Davos und stellt die Zukunft vor. Dezentrale grüne Energie, eGovernment, digitale Bildungsangebote, blockchainbasierte Zahlungssysteme und digitale Währung zur Bekämpfung von Korruption und zur Schaffung von Transparenz bei Fördermitteln. Die Baubranche? Ein Boom-Markt nach einem hoffentlich baldigen Ende des sinnlosen Kriegs.

Deutschland: Land des positiven Fortschritts

Nicht alles, was in Davos glänzt, ist Gold. Und der Kapitalismus als unser globales Betriebssystem hat vor allem in Bezug auf die sozialen Aspekte zuletzt erheblich an Glanz verloren. Wollen wir hier wenigstens stabilisieren, bleibt ein Austausch wichtig – auch in der direkten Begegnung. Mit dem Zielbild einer ökosozialen Marktwirtschaft, so kann das verwirklicht werden, wenn die Wirtschaft funktioniert. Gibt es was zu verteilen, so kann an sozialen Aspekten gearbeitet werden. Nachhaltigkeit und Ökologie brauchen Rahmen, Regulierungen und Verhaltensveränderungen, aber vor allem auch Investitionen in neue Technologien sowie Geschäftsmodelle, die nicht auf Kosten des Planeten ausgelegt sind.

Was bedeutet das? Regelungen sind fundamental wichtig und aus westlicher, insbesondere europäischer Sicht, ebenso eine Verhaltensveränderung in Sachen Konsum. Aber aus meiner Sicht wird eine antizipierte Zukunft anders aussehen. Eine KI-Regulierung zum Beispiel ist nicht realistisch, dennoch braucht es globale Leitlinien. Es geht aber vor allem um Wettbewerbsfähigkeit, neue Märkte und technologischen Wettkampf. Noch stehen viele Möglichkeiten offen. Auf dem ökonomischen Catwalk in den Schweizer Alpen gab es viele spannende Ansätze. Und sie sind erst der Anfang. So fühlt sich Davos 2024 an. Positivität prägt das Bild, auch wenn über Krisen und Probleme viel geredet wird. Überall sind die Menschen in Bewegung, ganz viele kleine Schritte.

Deutschland braucht eine neue Leistungskultur. Eine Umkehrung der Jammer-Kultur hin zu einem Optimismus. Tasse für Tasse, wie es einst »Starbucks-Gründer« Howard Schultz formulierte – Schritt für Schritt. Große Visionen und strategische Pläne sind wichtig, aber vor allem braucht es heute den täglichen Fortschritt. Deutschland: Land des positiven Fortschritts als Vision für 2024?

Gelingt das, folgen Qualität und Innovation, und aus dem kranken Mann wird eine junge vitale Frau, die im Namen Europas weitsichtig vorausschaut und kurzfristig handelt. Es braucht Handlungshelden, die das Heldenhafte (wieder) in der Handlung sehen. Schon Goethe war sich dessen bewusst. Im Faust klingt es so treffend: »Im Anfang war das Wort!« mit der Erkenntnis »und schreibe getrost: im Anfang war die Tat!«

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