Das Ego und unser Drang zur Selbstzerstörung

Wir schreiben die letzten Tage des Jahres, und während wir die Welt der Lichterketten und des Glühweins hinter uns lassen und uns kopfüber in das neue Jahr stürzen, lässt mich ein leicht beunruhigendes, vielleicht sogar widersprüchliches Gefühl nicht los: ein nagendes Bedauern darüber, wie sehr sich die Ich-Fokussierung in unserem Alltag in 2024 festgesetzt zu haben scheint. Augenblicke, die eigentlich der Besinnung und dem kollektiven Handeln vorbehalten sein sollten, wirken ersetzt durch das unaufhörliche Streben nach Anerkennung und Übertrumpfung.

Paradoxerweise sende ich Dir einen ich-bezogenen Text, um über das “Uns“ zu reflektieren.

Ein Jahr des “Ich-zuerst“

Die Psychologie wie auch die Philosophie beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit der menschlichen Neigung zur Egozentrik. Thomas Hobbes beschrieb den Menschen einst als „Homo homini lupus“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Diese Aussage klingt in Krisenzeiten besonders unheilvoll.

Krisenzeiten, so hat man oft beobachtet, verstärken diese Tendenz, weil wir in einen Überlebensmodus schalten. Pandemie, politische Unsicherheiten, Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Inflation – unsere Nachrichten sind ein Dauerschleifenband alarmierender Meldungen, die unser Grundvertrauen erschüttern. Kein Wunder, dass wir uns wappnen wollen. Und genau in einem solchen Dauerzustand leben wir gefühlt schon seit geraumer Zeit – erinnert Ihr Euch noch an das Wort des Jahres 2023? “Krisenmodus”.

In Sachsen kürte man 2024 das Wort “Hudelei“. Die Sächsinnen und Sachsen verwenden diesen Begriff, um Ärgernisse, Dilemmas oder Schlamassel auszudrücken. Vielleicht wird “Dunkelflaute“ das Wort des Jahres für 2025. Sogar in meiner Heimat Norwegen wurde dieser deutsche Begriff inzwischen in den Schlagzeilen – und nicht nur der kostenlose Strom im Sommer – importiert.

Doch wie robust kann eine Gesellschaft sein, in der wir alle nur noch mit Ellbogen kämpfen? Der Strompreis ist beispielsweise gegenüber 2023 im Durchschnitt sogar rückläufig und wird 2025 weiter sinken. Dennoch verdienen viele immer noch an der kollektiven Angst. Solange kein gemeinsamer Einsatz für Umbau, Speicher und Distribution erfolgt, bleiben die Preise für Verbraucher weit über dem Potenzial. 

Das Spannungsfeld zwischen Egoismus und Altruismus

Unsere Gehirne sind sowohl auf Eigennutz als auch auf Altruismus programmiert. In Wahrheit bewegen wir uns stets auf einem Spektrum zwischen egoistischem und prosozialem Verhalten. Unsere Position darauf verändert sich im Laufe des Lebens – manchmal sogar im Laufe eines Tages. Vor allem Krisen können uns in eine einseitige Richtung drängen.

Während der Pandemie wurde deutlich, dass gerade jüngere Erwachsene anfälliger dafür sind, ihre Verträglichkeit zu verlieren und ängstlicher, ja sogar misstrauischer zu werden. Das Leben in permanenter Anspannung macht uns alle dünnhäutiger. Wenn jede Schlagzeile uns aufs Neue erschüttert, ist es fast unvermeidlich, sich defensiv zu verhalten.

Das leere Versprechen des Ego – Ein Plädoyer für “gesunden Egoismus“

Auf den ersten Blick wirkt die Konzentration aufs eigene Wohlergehen lohnend. Wer sich in einer Warteschlange vordrängelt, spart vielleicht ein paar Minuten, und der ungeduldige Autofahrer, der rücksichtslos überholt, kommt ein winziges Stück schneller ans Ziel. Doch psychologische Forschung enthüllt eine unbequeme Wahrheit: Die dauerhafte Fixierung auf den eigenen Vorteil führt nicht zu langfristigem Wohlbefinden.

Ego-gesteuertes Verhalten steht häufig in Verbindung mit höheren Raten an Angstzuständen, Depressionen und einem Zerfall sozialer Bindungen. Materialismus – das Streben nach “immer mehr“ – geht einher mit Selbstzweifeln, Neid und geringerer Lebenszufriedenheit. Gleichzeitig schwächt das ständige Erwarten, dass andere sich um unsere Belange kümmern, unser eigenes Gefühl von Handlungsfähigkeit.

Warum Altruismus uns stärken kann

In einer Welt, in der das “Ich, ich, ich“ so laut ist, wirkt Altruismus fast futuristisch. Schon kleine Gesten, vom Ehrenamt bis hin zur simplen Höflichkeit an der Supermarktkasse, können mehr als nur anderen helfen – sie stellen eine Verbindung her.

Wer teilt, spürt oft eine tiefere Zufriedenheit. Der Psychologe Adam Grant spricht von “otherish“ – einem “gesunden Mix” aus Selbst- und Fremdorientierung. Dieses Spannungsfeld ist kein Widerspruch, sondern vielmehr ein lebendiger Tanz im Streben nach einem dynamischen Equilibrium. 

In einer Welt, in der uns Krisenschlagzeilen pausenlos überrollen, ist Selbstfürsorge unverzichtbar. Doch die Gefahr besteht darin, sich so weit zurückzuziehen, dass wir die Verantwortung für die Gemeinschaft vernachlässigen. Gesellschaften gedeihen durch gegenseitige Unterstützung.

Das Fest des “Wir“ – Ein “Dugnad“ für 2025

Während der “Blåtime“ – der blauen Stunde – in meiner Heimat Røros, Norwegen, hinterfrage ich mein Verhalten: Wie handle ich, wenn niemand zuschaut? Bin ich bereit, ein paar Sekunden aufzuwenden, damit jemand anderes weniger gestresst ist? Würde ich jemanden vorlassen, wenn es wirklich einen Unterschied macht?

Bald wird es wieder viele Neujahrsvorsätze für 2025 geben – frische Ziele, Lifehacks und große Pläne. Doch vielleicht ist 2025 der Moment, in dem wir ein wenig mehr rationales, aber wohlwollendes Mitgefühl an den Tag legen. Wenn überall von “Dunkelflaute“ die Rede ist, sollten wir uns fragen: Geht es dabei wirklich nur um Elektrizität – oder auch um die Energie, die uns als Menschen verbindet? Zwar brennen unsere “Glühbirnen“, aber ist wirklich jemand zu Hause?

Uns droht, eine untote Gesellschaft zu werden – körperlich anwesend, aber geistig abgekapselt, fast wie in einer Zombie-Apokalypse. Wenn wir jedoch die letzte Seite von 2024 mit neuem Elan umblättern, können wir das neue Jahr mit Lebendigkeit beginnen – oder sogar mit geteilter Lebendigkeit. Denn wenn wir unsere Gemeinschaften stärken, stärken wir letztlich auch uns selbst.

Vielleicht können wir “Dugnad“ als Wort des Jahres bereits jetzt festlegen. Dieses norwegische Wort symbolisiert eine Art Ehrenamt ohne Ehre und Amt – ein bedingungsloser Einsatz für andere und das Kollektiv. Paradoxerweise könnte gerade das Zurückdrängen unserer Ichbezogenheit das sein, was uns individuell am meisten voranbringt. Wer das gesellschaftliche Gefüge stärkt, schafft Raum für die eigene Entfaltung.

Ein technologisches Modell für menschliches Wachstum

Ein technologisches Modell für menschliches Wachstum
In Zeiten exponentiellen technologischen Fortschritts könnten wir dies als ein “Reinforcement-Learning-Modell“ betrachten: Wenn alle um uns herum auf einem höheren Niveau spielen, schaffen sie die Grundlage dafür, dass auch wir – durch intrinsische Motivation – weiter wachsen können. Nicht auf Kosten anderer, sondern als Teil einer Gemeinschaft.

Auf 2025, ein Jahr, das das Kollektiv stärkt und einen neuen Individualismus ermöglicht – den Weg zu einer lebendigen Gesellschaft.

Auf die Lebendigkeit und die nächste “Blåtime“!

Godt nyttår aus Røros.

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