Das Risiko für Deutschland: Zu niedrige Energiepreise!

Warum fällt es uns so schwer, die Dynamik technologischer exponentieller Beschleunigung zu begreifen? Wir kennen das Phänomen: Wenn Politiker und Medien nicht über die Zukunft sprechen wollen, sollte zumindest die Wirtschaft darauf hinweisen.

Gesetz der exponentiellen Beschleunigung

Wenn ich dich bitten würde, vor deine Haustür zu gehen und 30 Schritte zu machen, könntest du wahrscheinlich ungefähr abschätzen, wo du landen würdest, ohne diesen kurzen Spaziergang überhaupt zu machen. Es ist eine einfache, lineare Schritt-für-Schritt-Erfahrung, die du tausendmal gemacht hast. Aber was wäre, wenn ich dir sagen würde, du sollst 30 exponentielle Schritte machen? Das heißt, verdopple jedes Mal die Größe deines Schrittes: 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64… usw. Wenn du 30 exponentielle Schritte vor deine Haustür machen würdest, wo glaubst du, würdest du landen? Die Antwort? Du würdest 26 Mal um die Erde gehen!

Diese mangelnde Fähigkeit, exponentiell zu denken, gepaart mit fehlendem Verständnis für technologische Entwicklungen, versetzt Politiker und Führungskräfte in eine reaktive Rolle. Schlicht, wir machen uns viel zu wenig Gedanken darüber, was wir selbst als eine wahrscheinliche Zukunft erachten.

Ich beschreibe das als “Zukünften”, vergleichbar mit den Fußballern gestern. Jamal Musiala wurde jüngst im Spiegel interviewt und gefragt, ob es Ähnlichkeiten gibt zwischen dem Schachspieler Musiala und dem Fußballer Musiala. Er sieht viele Überlappungen: Es wird nachgedacht „über die eigenen nächsten Schritte, über den Gegner, und welche nächsten Züge er auf dem Brett wohl machen wird. Ich muss antizipieren. Genau das mache ich auch als Fußballer“, und so war es auch gestern Abend. Seine Antizipation führte zum entscheidenden Tor gegen Dänemark. Es geht nicht nur um Geschwindigkeit. Die Fußballlegende Johan Cruyff beschreibt dies auf wundervolle Weise: „Geschwindigkeit wird oft mit Einsicht verwechselt. Wenn ich ein bisschen eher loslaufe als die anderen, wirke ich schneller.“ Und genau darum geht es heute: Dass die Führungskräfte der Wirtschaft anfangen, die technologische Zukunft zu antizipieren, die nächste technologische Kurve, und sich trauen, darüber zu sprechen, sich zu positionieren und sich zu zeigen. Dann werden auch aus Sicht der deutschen und europäischen Wirtschaft wieder Tore geschossen. Das ist Zukünften.

Heute im #AndersGedacht geht es (erneut) um die antizipierte Zukunft.

Worüber könn(t)en wir sprechen?

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Ein anschauliches Bild ergibt sich beim Blick auf die jährliche Klimakonferenz „COP“. Waren es bei COP26 im Jahr 2021 in Glasgow 25.000 Teilnehmer, so kamen 2022 nach Sharm el-Sheikh 40.000. In Dubai bei COP28 waren es 2023 85.000. Eine etwaige Verdoppelung der Teilnehmerzahlen pro Jahr. Im Schnitt stiegen auch die Investitionen pro Kopf. Zudem gibt es Fortschritte in der Technologie, eine Reduktion der Produktionskosten und -zeiten sowie politische Aktivitäten zum Abbau von Bürokratie und beschleunigten Genehmigungen für neue Projekte. Auch wenn diese Zahlen nicht absolut sind, ergeben sie ein eindeutiges Bild. Wenn sich die Teilnehmerzahl verdoppelt und die Investitionen pro Kopf ebenfalls verdoppeln, resultiert eine Vervierfachung in nur einem Jahr. Halbieren sich Kosten und Produktionszeit, vervielfacht sich die Geschwindigkeit der Umsetzung um das Achtfache.

Arbeiten wir unter der Annahme exponentiellen Wachstums und benötigen sieben Jahre, um von 1% auf 2% grüne Energie zu kommen, wie lange würde es dauern, bis wir fertig sind, wenn sich die Abdeckung verdoppelt und die Geschwindigkeit halbiert? Gefühlt ewig, aber bei genauerem Hinsehen wären es 3,5 Jahre für die nächsten 2%, was zu 4% führt, dann weitere 1,75 Jahre bis zu 8%, 12 Monate bis zu 16%, 6 Monate bis zu 32%, 3 Monate bis zu 64%, und dann hätten wir mathematisch eine Überproduktion. Mit anderen Worten. 7 Jahre um von 1% auf 2%, dann 7 weitere Jahre um auf 100% zu kommen.

Glauben wir, dass es in Zukunft schneller oder langsamer vorangeht? Wie viel? Zwei-, vier-, acht- oder sechzehnfach? Die Antwort lautet: Wir entwickeln uns exponentiell. Die Frage sollte lauten: Warum sollte die Entwicklung jetzt am Ende sein?

Reaktive und Reaktionärer Kapitalismus

In Lieblingstalkshows der Deutschen wird erklärt, warum Batterien nicht geeignet sind und dass Europa ein Sicherheitsrisiko mit Seltenen Erden hat. Kurz darauf werden riesige neue Vorkommen in Schweden und Norwegen entdeckt, gefolgt von Durchbrüchen in der Wissenschaft: Die Batterieproduktion könnte möglicherweise sogar ohne diese Mineralien auskommen. Seit Jahren werde ich als Zukunftsvisionär und Technologie-Utopist bezeichnet. Meine Thesen über die Entwicklung seien provokant und steil. Ich antworte nüchtern mit meiner Sichtweise, dass eine Rückwärtsentwicklung oder sogar eine Stagnation in Technologie und Wissenschaft eher eine steile These wäre. Warum sollte es nicht weitergehen? Deutschland und Europa leiden unter einem reaktiven und zum Teil reaktionären Kapitalismus.

Antizipierender Kapitalismus

Aber was bedeutet ein Kapitalismus, der nicht nur reagiert, sondern die Zukunft antizipiert? Eine Fähigkeit – und vielleicht die entscheidende Fähigkeit – ist es, die exponentielle Entwicklung von Technologischen Fortschritte in unterschiedlichen Segmente zu erkennen.Technologische Durchbrüche folgen einem bekannten Muster: Hype, Ernüchterung, wilder Westen durch plötzlichen Fortschritt und Durchbrüche.

Seit 70 Jahren schreiten wir “stabil” exponentiell voran, dabei ist die lineare Denkweise der größte Feind, um früher loslaufen zu können.

Sicherlich geht es um Risikobereitschaft – um Mut – aber vor allem um Einsicht und Verständnis. Lange belächelt und als Science-Fiction abgetan, haben Large Language Models die unterschiedlichsten Branchen, die Wirtschaft und sogar die Gesellschaft als Ganzes”plötzlich” transformiert.

Jetzt stehen weitere Durchbrüche bevor. Dort, wo debattiert wird und Skeptizismus herrscht, könnte “plötzlich” der nächste Fortschritt kommen. Die Profiteure? Diejenigen, die sich ein solches Zukunftsszenario als mögliche Realität ausgemalt haben. Wir könnten hier über das Gesundheitssystem, die Finanzmärkte und die Umstellung auf digitale Währungssysteme wie den digitalen Euro sprechen, aber das aktuell offensichtlichste Beispiel ist die Energiewirtschaft.

Energie zum Nulltarif

Die größte Ironie: Wir könnten bald vor dem Problem stehen, dass Energie zu billig wird. Ja, zu billig! Durch massive technologische Fortschritte in der Energieerzeugung und -speicherung könnten die Preise drastisch fallen. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) sind die Batteriekosten in weniger als 15 Jahren um 90 Prozent gesunken, und bis 2030 wird ein weiterer Preisrückgang von 40 Prozent erwartet. Ich halte das für zu niedrig.

Was heute noch undenkbar erscheint, ist morgen Realität. Wir haben kein Energieproblem, sondern „nur“ ein Speicher- und Distributionsproblem. Ein drastischer Preisverfall bei Energie hat massive Folgen. Ganze Industrien könnten in die Knie gezwungen werden, da er den Markt destabilisieren und die Kostenstrukturen vieler Unternehmen durcheinanderbringen würde. Eine Umstellung auf neue technologische Energieformen wie Sonne und Wind ist keine ideologische Maßnahme im Hinblick auf den Klimawandel, sondern die Grundlage für unternehmerische Existenz und zukünftige Wettbewerbsfähigkeit. In einem Jahrzehnt werden dezentrale Strukturen, technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt sowie die Effekte eines massiven Ausbaus die Grenzkosten für Energie in Richtung Null treiben.

Auf einem Event dieser Woche wurde ich angesichts dieser These mit der Frage konfrontiert: „Wenn es so sinkt, lohnt sich dann überhaupt das Invest?“. Meine einfache Antwort: „Es gibt zwei Formen von Investitionen. Die einen tun jetzt weh, die anderen langfristig und diese sind dann nachhaltig“. Denn das Wort Nachhaltigkeit wird zunehmend aus unserem Vokabular verschwinden. Nicht, weil die Gedanken dahinter nicht fundamental wichtig sind, sondern weil es darum gehen wird, ob Unternehmen effizient haushalten und effektiv mit Ressourcen umgehen. Unternehmen, die in traditionelle Energietechnologien investiert haben, könnten massive Verluste erleiden, während Firmen, die frühzeitig auf günstigere Energietechnologien umstellen, einen Wettbewerbsvorteil hätten. Die Debatte über Atomkraftwerke wird über Sicherheit geführt, dabei wird es darum gehen, dass in zwanzig Jahren, also der typischen Bauzeit eines Atomkraftwerks, kein Atomkraftwerk wettbewerbsfähig sein wird. Dasselbe wird auch fossile Brennstoffe treffen. Es geht um Wettbewerbsfähigkeit.

So ist nicht die technologische Entwicklung das Problem, noch das Geld, das dafür benötigt wird, sondern die Geschwindigkeit der Umstellung und am Ende die Wettbewerbsfähigkeit für eine Zukunft, die sich bereits heute antizipieren lässt.

Szenarienplanung und antizipierendes Denken sind keine Spielerei, sondern notwendige Werkzeuge, um nicht nur Schritt zu halten, sondern die Zukunft zu gestalten.

Die Rolle der Politik muss sich von „Studien zeigen“ zu „Wir glauben an folgende Zukunft“ verändern. Wir brauchen nicht Bewahren und Verwalten, es schreit heute nach Gestalten. Es braucht eine verstärkte Förderung von Forschung und Entwicklung, Anreize für Zukunftstechnologien und eine flexible Anpassung an neue Marktbedingungen durch Abbau von Bürokratie.

Der Druck muss aus der Wirtschaft kommen. Wenn der Druck groß wird, zieht auch die Politik nach, denn es geht um Stimmen.

Wie also kommt Europa und Deutschland aus dem, was ich „Lame-Duck Capitalism“ – einen reaktiven und reaktionären Kapitalismus – nenne? Hier drei Kernprobleme:

  1. Wir schauen nicht genau hin. Wir transportieren Wissen, aber verstehen die unterliegenden Komplexitäten nicht. Kurzum, wir reagieren mit schnellen Lösungen, vergleichbar mit einem Pflaster auf einer Wunde, statt zu antizipieren, was als nächstes passieren könnte.
  2. Wir glauben nicht ausreichend an Technologie und Wissenschaft. Die Menschheit ist zu unendlich besseren Erklärungen fähig. Seit 70 Jahren leben wir in einer Phase exponentieller technologischer Entwicklung und machen in der Wissenschaft stetige Fortschritte. Warum sollte das aufhören?
  3. Wir beharren auf Kontrolle. Versuchst du das Unkontrollierbare zu kontrollieren,landest du im Irrenhaus. Welche Zukunft ist für dich erstrebenswert? An welche Zukunft glaubst du? Aus der Zukunft gestalten wir die heutige Wirtschaft.

Und weil es diese Woche anscheinend auch internationalen Medien auffällt, zum Schluss ein paar Schlagzeilen und Grafiken aus dem Economist – nur aus dieser Woche. Spätestens Ende des Jahres werden wir alle darüber reden, dann aber könnten einige – wie einst Cruyff – bereits losgelaufen sein und sich einen Vorsprung durch Technik verschafft haben.

Gestern Abend war der deutsche Musiala zumindest einen Schritt voraus. Lass uns Zukünften.


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