Eine verspielte Welt

EINE VERSPIELTE WELT

Von antiken Brettspielen in Mesopotamien bis zu den Olympischen Spielen in Griechenland war strukturiertes Spiel immer integraler Bestandteil der Gesellschaft. Während freies Spiel als Leinwand für Kreativität und Erkundung dient, bringen organisierte Sportarten ihre eigenen einzigartigen Vorteile mit sich.

Weltweit spiegeln Sportarten und Spiele, denen sich Kinder während der Schulpausen widmen, größere gesellschaftliche Rahmenbedingungen wider. Sie dienen als Lektionen in Teamarbeit, Kreativität, Führung, den Höhen des Erfolgs, den Tiefen des Scheiterns, strategischem Denken und Durchhaltevermögen. Historisch gesehen war das Spielen mehr als nur ein unterhaltsamer Zeitvertreib; es war schon immer ein mächtiges Werkzeug für Lernen und persönliches Wachstum.

Allerdings sollte der Begriff “Spiel” nicht leichtfertig mit “Spielen” gleichgesetzt werden. Im Englischen unterscheidet man hier zwischen “Game” und “Play”. Ein Spiel (das Game) besitzt von Natur aus Struktur und Zweck, während das Spielen (das Play) eine Offenheit an den Tag legt. Zusammen bilden sie die Grundlage für menschlichen unendlichen Fortschritt, und das ist das Thema unserer heutigen Betrachtung in unserer verspielten Welt.

DAS SPIEL ALS ZUKÜNFTSMOTOR

Während Spiele wie Fangen oder Verstecken auf den ersten Blick trivial erscheinen mögen, vermitteln sie doch Erfahrungen, die fundamentale Prinzipien der Strategie, sozialen Dynamik und sogar physikalische Grundlagen lehren. Wir begreifen, welche Handlungen funktionieren und welche nicht. Und je mehr Aufgaben wir auf diese Weise zu lösen versuchen, desto größer werden unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Handeln. Hier trifft ein altbewährter Prozess auf die uns innewohnende Neigung, das Kommende zu gestalten – zu zukünften. 

Die Freude, die aus dem Spielen entsteht, ist nicht nur eine flüchtige Emotion. Sie hat tiefe Wurzeln in unserer Neurochemie. Das Spielen veranlasst unser Gehirn, eine Mischung aus DOSE (Dopamin, Oxytocin, Serotonin und Endorphin) Chemikalien freizusetzen, die umgangssprachlich als „Wohlfühl“-Hormone bezeichnet werden und entscheidend für unsere Lust- und Belohnungskreisläufe sind. Sie fördern unsere Motivation, erleichtern das Lernen und wecken unsere angeborene Neugier. Im Laufe der Zeit wird diese positive Verstärkung zu einem kräftigen Lernmechanismus und treibt den Fortschritt voran.

Diese Vorliebe für das Spiel ist nicht exklusiv für den Menschen. Viele andere Arten, insbesondere Säugetiere, zeigen in ihren prägenden Jahren spielerisches Verhalten. Löwenjunge etwa frönen Scheinkämpfen, nicht nur zum Spaß, sondern auch, um ihre Raubtierfähigkeiten zu schärfen. Vögel experimentieren mit ihren Stimmumfängen, was zu den komplexen und melodischen Gesängen führt, die unsere Ohren erfreuen. Delfine zeigen spielerisches Verhalten, vom Wellenreiten bis zum spielerischen Werfen von Seetang mit ihren Flossen, was sowohl ihre Beweglichkeit als auch ihre sozialen Bindungen verbessert.

Für Athleten ist das Verständnis dieses Zusammenspiels bahnbrechend. Das Einweben von Spielen in Trainingseinheiten macht diese nicht nur unterhaltsamer, sondern steigert auch die Motivation. Dieser durch Dopamin angetriebene Feedback-Mechanismus stellt sicher, dass Athleten engagiert bleiben, ihr Lernen beschleunigen und erworbene Fähigkeiten über längere Zeiträume behalten.

In meinem neuen Buch – ‘Wikinger-Kodex‘ – ergründe ich die Rolle des Spielens und des Spiels in Hochleistungskulturen. Das Spiel zu spielen schafft eine Grundlage für Fortschritt. Das Spiel an sich dient unserer Zukunft. Durch das Spielen gestalten wir die Zukunft und erschaffen das Andere und das Neue. Das Buch ist somit auch eine philosophische Betrachtung von Fortschritt. Diese Gedanken sind mir besonders seit jenem Sonntagabend am 28. August 2016 präsent, als ich das Vergnügen hatte, mich virtuell mit dem britischen Physiker David Deutsch über sein Buch ‘The Beginning of Infinity’ auszutauschen. David, mit seiner abendlichen Cornflakes-Mischung, inspirierte mich an jenem Sonntag, mich zu trauen, eine statische Weltanschauung endgültig loszulassen.

DAS SPIEL VS. SPIELEN

In der heutigen, von Metriken dominierten Welt wird das einfache Spiel oft mit Komplexität und Risiko gleichgesetzt. Viele betrachten Spieleinstellungen, die durch Endlichkeit und Unvorhersehbarkeit charakterisiert sind, als risikobehaftet, da sie nicht immer kontrollierbar sind und somit das Potenzial für Verluste bergen. Spielerisches Verhalten, andererseits, wird manchmal als Mangel an Ernsthaftigkeit und Konzentration missverstanden, was vermeintlich ebenso Risiken mit sich bringt.

Doch in der Welt des Sports, ebenso wie im alltäglichen Leben, wird der Sieg oft als oberstes Ziel betrachtet, bei dem für spielerische Missgeschicke kein Raum zu sein scheint. Diese Ansicht spiegelt sich in dem Bestreben wider, Risiken zu minimieren, Spielplätze zu standardisieren (Kinder wollen keine TÜV-zertifizierten Spielplätze, sie wollen sich auf Müllplätze austoben, frei im Wald herumtollen, die Unendlichkeit erkunden…) und jede Tätigkeit messbar zu machen – eine Verschiebung hin zum strukturierten ‘Spiel’. 

In der Wirtschaft wurde in den letzten Jahren von  ‘Fehlerkultur’ gesprochen, doch das bloße Glorifizieren von Fehlern ist nur ein Missverständnis der wahren Spielkultur. Bei dieser geht es vielmehr um Hochleistung und das Verschieben von Grenzen – bis zu dem Punkt, an dem es zu weit geht. Das Ausmaß, in dem wir ‘zu weit gehen’, und unsere Fähigkeit, uns und unsere Umgebung nach Misserfolgen anzupassen, ist die Basis für Wachstum und Lernen. Die wahre Stärke und die gestalterische Power entsteht nicht aus einer Kultur, die Fehler feiert, sondern aus den tief verwurzelten Erfahrungen des freien Spiels kombiniert mit dem Streben nach Hochleistung.

Ein interessanter philosophischer Ansatz stammt von dem Theologen James P. Carse in seinem Buch “Finite and Infinite Games – A Vision of Life as Play and Possibility”. Obwohl es 1986 veröffentlicht wurde, ist es Jahrzehnte später noch immer faszinierend, Carse’s Einsichten in die Bedeutung von Spiel und Möglichkeit zu sehen – nicht nur im Hochleistungssport, sondern im Leben selbst.

Carse geht in die Tiefe und unterscheidet, wie er es ausdrückt, zwischen zwei Haupttypen von Spielen (oder Lebensansätzen): endlich und unendlich.

Endliche Spiele haben einen klaren Anfang, eine Mitte und ein Ende. Es handelt sich um Formen des strukturierten Spiels, die oft in organisierten Sportarten und Spielen zu sehen sind, mit klar definierten Regeln und Zielen. Diese Regeln bieten einen Rahmen, der es den Spielern ermöglicht, zu experimentieren, Strategien zu entwickeln und sich weiterzuentwickeln. Indem sie reale Herausforderungen in einer kontrollierten Umgebung widerspiegeln, stärken endliche Spiele die kognitive Entwicklung und fördern Fähigkeiten wie strategisches Denken, Problemlösung und Teamarbeit.

Das Hauptziel im endlichen Spiels ist es zu gewinnen. Es endet, wenn es einen Sieger gibt. Erfolg in solchen Spielen führt zum Sieg. Die Regeln sind vereinbart und konstant; wenn sie gebrochen werden, könnte das Spiel stoppen, oder eine Strafe könnte folgen. Diese Spiele werden durch externe Definitionen gerahmt, begrenzt durch zeitliche Beschränkungen, spezifische Regeln oder physische Räume. Die Teilnehmer sind vorbestimmt, und die Spiele haben festgelegte Ergebnisse oder Ziele.

Unendliche Spiele hingegen haben keinen definitiven Anfang oder Ende. Das Hauptziel unendlicher Spiele ist es, das Spiel am Laufen zu halten. Unendliche Spiele werden mit dem Ziel gespielt, das Spiel fortzusetzen und mehr Spieler ins Spiel zu bringen. Regeln können sich ändern, und sie sind anpassungsfähig. Sie entwickeln sich weiter, um das Spielende zu verhindern und das Spielen zu verlängern. Diese Spiele sind intern definiert und haben Grenzen, die fließend sind. Spieler können wechseln, und die Anzahl der Spieler kann variieren. Es gibt kein festgelegtes “Gewinn”-Ergebnis. Die Reise und die Fortsetzung sind wichtiger als jeder Endpunkt.

DAS SPIEL DES LEBENS

Wie steht die Philosophie von endlichen und unendlichen Spielen in Beziehung zu unserem Leben? Bald klicken wir uns wieder bei Netflix ein, um Squid-Game 2 zu schauen. ‘Sucht macht süchtig’, hatte ich das damals bezeichnet, als dieses koreanische Missfit den Mainstream traf. 

Wie finden wir in unserem Leben einen Balance zwischen spielerischer Leichtigkeit und einem verspielten Leben in einer Welt voller Spiele?

Einfach ausgedrückt: Um in endlichen Spielen – wozu unser Leben noch gehört – wirklich erfolgreich zu sein, muss man das unendliche Spiel in seiner Tiefe verstehen und sich darin vertiefen. Dieses Streben nach einem dynamischen Gleichgewicht, das sich in unserem verspielten Alltag immer wieder findet , ist in meiner Weltanschauung die Basis eines erfüllenden Lebens. Wir fühlen das Spiel und füllen das Leben mit Spielen. 

Während endliche Spiele – wie olympische Veranstaltungen oder einzelne Wettkämpfe – der Ort sind, an dem Medaillen, Ruhm und Reichtum gewonnen werden, ist es die unendliche Suche nach Fortschritt und neuen Möglichkeiten, die Grenzen verschiebt. Dies ermöglicht nicht nur Höchstleistungen, sondern hebt auch die Basis an und bereitet den Weg für kontinuierliches Wachstum. Unendliche Spiele fördern die Erforschung des Potenzials und die Bereitschaft, über festgelegte Grenzen hinauszugehen. Im Gegensatz dazu konzentrieren sich endliche Spiele darauf, innerhalb festgelegter Parameter zu maximieren und zu optimieren, um eine bestimmte Leistung zu erzielen.

Carse ermutigt die Leser, über die Arten von Spielen, an denen sie teilnehmen, und die Implikationen dieser Entscheidungen nachzudenken. Er stellt die These auf, dass die Annahme einer unendlichen Spielmentalität die eigenen Erfahrungen tief bereichern kann. Die Psychologie des Spiel und Spielens erscheint mir heute relevanter denn je. 

In dieser Lebensphilosophie entdecken wir ein zentrales Prinzip des menschlichen (Da)seins: die Bedeutung von Spaß und Freude im Wachstumsprozess, jenseits der strengen Grenzen des Wettbewerbs. Besonders in der frühen Entwicklung ist es essenziell, eine offene und unendliche Denkweise zu fördern, um Kreativität und Wachstum zu ermöglichen. Wir alle, nicht nur Kinder, streben nach einem Umfeld, in dem der Horizont der Möglichkeiten offen und unbegrenzt ist. 

Wir leben in einer Welt, die verspielt erscheint, in der uns endliche Spiele und das Gewicht des Lebens mit einer gefühlten existenziellen Bedrohung erdrücken. Dabei verkennen wir oft, dass das Leben selbst das unendliche Spielen ist. Es schenkt uns die wahre Magie und die Grundlagen,, um ‘das Spiel’ mit all seinen Grenzen und Regeln zu meistern und endliche Siege erleben und feiern zu können. Kreativität und unendlicher möglicher Fortschritt sind nicht nur menschliche Eigenschaften, sondern ein integraler Bestandteil unserer wahrgenommenen Realität. In einer schnelllebigen Welt voller Veränderungen ist es unsere höchste Priorität – und zugleich unsere größte Chance – unser Leben nicht zu verspielen. Wir dürfen das unendliche Spiel des Lebens annehmen und uns ihm durch das Spielen öffnen: Let’s Play.

 

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