Der Wikinger-Kodex: Eine Leistungskultur verwurzelt in Werten

Der Wikinger-Kodex: Eine Leistungskultur verwurzelt in Werten

Im Atatürk-Stadion von Istanbul schreitet heute Abend eine imposante Figur auf den heiligen Rasen des Champions-League-Finales. Erling Haaland, eine unbestreitbare Lichtgestalt des Fussball, einer der Sportgiganten unserer Zeit. Anderswo, auf dem ockerfarbenen Staub von Roland Garros, bereitet sich Casper Ruud auf ein weiteres Finale vor, nach dem überzeugenden gestrigen 3-0 Sieg gegen Alexander Zverev bei den French Open. Inzwischen entfalten sich die sportlichen Heldentaten von Karsten Warholm, Viktor Hovland und Martin Ødegaard auf diversen Bühnen, von Hürdenbahnen bis zu Golfgrüns. Gemeinsam bilden die Heroen die goldene Generation von Norwegens Sportlern. Sie verkörpern eine Leistungskultur, in der Fair Play, Entschlossenheit und Ruhm harmonisch koexistieren.

Casper Ruud wurde 2022 als erster Tennisspieler seit 20 Jahren mit Ausnahme von Nadal und Federer mit dem Stefan Edberg Sportsmanship Award ausgezeichnet. Seine feine Art wird immer wieder von Legenden wie Mats Wilander hervorgehoben. Weniger als 24 Stunden, nachdem er beim Memorial Tournament 3,6 Millionen US-Dollar gewonnen hatte, war Viktor Hovland  als Caddie für seinen Freund bei den U.S. Open im Einsatz, und auch im Fernsehen wird er wöchentlich von Golflegenden für sein Spiel und  seinen Umgang mit den anderen Spielern gelobt. Ødegaard wurde bereits mit 22 Jahren Mannschaftskapitän und Haaland überließ seinem Teamkollegen Gündogan einen Elfmeter in einem engen Spiel mitten im Saisonfinale, der dadurch die Chance auf einen Hattrick hatte, obwohl Haaland “unerreichbare” Rekorde hätte brechen können und es sogar die Meisterschaft hätte gefährden können, als Gündogan verschoss. Es sind gerade diese Weltathleten, die an der Spitze der Sport-Galas stehen und für Werte eintreten und von Journalisten und Moderatoren in ihren Sportarten Woche für Woche gelobt werden. 

Worum es geht, beschrieb Karsten Warholm, als er mit dem Award als “Vorbild des Jahres” ausgezeichnet wurde:  “Mich beschäftigt, meinen Einfluss auf eine gute Art und Weise zu nutzen, d. h. man muss zu Angeboten und Gelegenheiten, die sich bieten, „Nein“ sagen, wenn diese den eigenen Werte widersprechen. Die Sache mit Werten ist, dass sie selten etwas bedeuten, bevor es wirklich um etwas geht. Und das ist es, was ich beweisen möchte, etwas, für das ich einstehen kann, wenn die Dinge ein wenig gegen den Strich gehen.” 

Im Kern steht das norwegische Modell – Werte und Integrität. Die sportlichen Erfolge des kleinen Land Norwegens mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern unterstreichen den intrinsischen Wert des Sports als Gemeingut. Die skandinavische Nation hegt eine besondere Affinität zur Verbreitung der Freude am Sport, eine Philosophie, die ständig Weltklasse-Talente in Disziplinen von Golf bis Fußball und Tennis schafft und – weniger überraschend –  beim Wintersport. Norwegens sportlicher Ethos feiert Inklusivität, begrüßt die Beteiligung von Individuen aus dem gesamten sozialen Spektrum und erkennt den Sport als eine Sprache an, die gesellschaftliche Spaltungen überwindet und persönliches Wachstum fördert.

FREUDE, FREU DICH

Das Mantra Norwegens – “Freude am Sport” – lenkt seine Sportkultur weit über die Jagd nach Gold und Ruhm hinaus. Es liegt ein Schwerpunkt auf persönlichem Wachstum, körperlicher Gesundheit und dem Erwerb von Lebenskompetenzen. In Norwegen lernt man Fortschritte zu genießen. Positivität und  Aktivierung führen zu Erfolg, davon sind die kleinen Vereine bis hin zum Leistungskader des Olympiastützpunkts alle überzeugt. Und die Erfolge sprechen für sich. Diese ganzheitliche Philosophie fördert ausgeglichene Individuen, die nicht nur sportlich immer wieder über sich hinauswachsen, sondern auch Botschafter von Prinzipien wie Integrität, Empathie und Resilienz sind.

Norwegens Engagement für Integrität erstreckt sich auf die breitere Sportlandschaft, insbesondere durch eine feste Haltung gegenüber Doping. Norwegens Engagement für die Aufrechterhaltung eines Level Playing Fields hat weltweit Bewunderung und Respekt gewonnen. Diese Athleten stehen für sauberen Sport und inspirieren Sportler auf der ganzen Welt, sich ähnlichen Standards zu verpflichten.

DUGNAD – JEDER MACHT MIT

“Dugnad” ist das Konzept, das dahintersteckt. Es ist uralt und wird von den Norwegern seit Generationen geteilt. Das Wort bedeutet “Mitmachen” und beschreibt einen inhärenten gesellschaftlichen Wert. Als Konzept umfasst es die freiwillige Arbeit für das Gemeinwohl und durchdringt auch Norwegens sportliches Ökosystem. Der nationale Fokus auf breiter Beteiligung und gleichberechtigtem Zugang zum Sport bildet den Grundstein des Erfolgs. Kinder werden ermutigt, verschiedene Sportarten auszuprobieren, eine Liebe zur körperlichen Aktivität zu fördern und eine vielseitige sportliche Basis aufzubauen, die es Talenten wie Haaland, Ruud, Warholm, Hovland und Ødegaard ermöglicht, aufzublühen.

Dugnad erstreckt sich über die Entwicklung an der Basis hinaus und verleiht lokalen Vereinen und Freiwilligenorganisationen eine entscheidende Rolle. Vereine fördern nicht nur Einheit und Zugehörigkeitsgefühl, sie sind vielmehr Ausdruck der Gemeinschaft und Lebenselixier für den Gemeinsinn. Das Engagement von Familien und Freiwilligen in allem, von Fundraising bis Coaching, stärkt das Gefüge der norwegischen Sportlandschaft. Sport ist in diesem Kontext mehr als individuelle Leistung – es ist ein geteiltes Erlebnis, das zum Wohlergehen der Gesellschaft beiträgt.

Die sportliche Stärke Norwegens ist kein Zufall – sie wird sorgfältig kultiviert, indem das Spielerische der Leistungsgesellschaft gelebt wird. Das norwegische Modell, das Inklusivität und einen ganzheitlichen Ansatz in den Vordergrund stellt, schafft eine Umgebung, in der Fair Play, Entschlossenheit und Ruhm harmonisch gedeihen können. Norwegens Athleten inspirieren nicht nur durch ihre sportliche Leistung, sondern auch durch die tiefgreifende soziale Wirkung des Sports.

Als gebürtiger Norweger schwillt natürlich mein Patriotismus angesichts der Leistungen unserer goldenen Generation, aber ich sehe auch in dem Wikinger-Weg eine Blaupause, die über den Sport hinausgeht – er kann Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Allgemeinen inspirieren. Während die Welt den Triumphen von Norwegens Athleten applaudiert, sollten wir die entscheidende Rolle von Werten und Integrität bei der Suche nach Exzellenz stärker in den Fokus nehmen. Dies ist schließlich der wahre Kodex der modernen Wikinger.

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