Die letzte narzisstische Kränkung

»Macht euch die Erde untertan!« Mit dieser Weisung schickt der alttestamentarische Gott seine zweibeinigen Geschöpfe in die Welt hinaus. Entsprechend waren sich die Menschen jahrtausendelang sicher, dass die Erde den Mittelpunkt des Universums darstellen müsse. Schließlich habe Gott seine »Krone der Schöpfung« – eben uns Menschen – nicht auf einem unbedeutenden Planeten irgendwo in einem Winkel des Universums ausgesetzt. Doch dann stellte Nikolaus Kopernikus den Platz der Menschheit in der kosmologischen Ordnung infrage und führte den Gläubigen vor Augen, dass ihre Gewissheiten allesamt Illusionen und Irrtümer waren. Ein schmerzhafter Absturz im kosmischen Ranking, der jedoch den Weg frei gemacht hat für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und revolutionäre Technologien von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie bis hin zur Quantentheorie,  von der Raumfahrt bis hin zum James Webb Teleskop. Mit der »kosmologischen Kränkung« fing jene Serie schmerzlicher Erkenntnisse an, die Sigmund Freud als »narzisstische Kränkungen« der Menschheit bezeichnete.

Rund dreihundert Jahre nach Kopernikus fand Charles Darwin heraus, dass wir nicht nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden, sondern das Ergebnis der biologischen Evolution sind. Diese »biologische Kränkung« stürzte die Menschen auch noch vom Thron der gottgleichen Geschöpfe und ordnete sie in die »Tierreihe« ein. Der nächste schmerzhafte Schlag für unser kollektives Ego – der aber gleichfalls Raum schuf für Erkenntnisfortschritt und bedeutende neue Technologien, etwa für Gentechnik und die Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Im 20. Jahrhundert folgte dann die »psychologische Kränkung« der Menschheit. Die psychoanalytische Einsicht, dass wir von unbewussten Trieben und Gefühlen weit stärker gesteuert werden als von rationalen Überlegungen, moralischen Geboten und bewussten Willensakten setzte dem Selbstwertgefühl der Menschen zum dritten Mal schwer zu – was wiederum Platz machte für gewaltige Erkenntnisfortschritte und Innovationen, vor allem in der Medizin und Psychologie. 

Diese Serie schmerzlicher Erkenntnisse, die die menschlichen Gewissheiten in ihren Grundfesten erschüttert hatte, kann im 21. Jahrhundert um ein finales Kapitel erweitert werden. Die Menschheit steht jetzt vor ihrer letzten narzisstischen Kränkung – der massiven Verletzung unseres Selbstwertgefühls durch den Irrglauben, dass wir eine posthumane Hypertechnologie erschaffen können, die alles besser kann als wir – der Übermensch. Allerdings ist dieser dabei im Nietzscheanischen Sinne keine Aufgabe des Menschen, sondern eine menschliche Selbsttäuschung. Eine ‘Geistes Erweiterung’, deren zugrundeliegende ‘Geistigkeit’ weder verstanden wird noch zu erklären ist – eben eine neue oder upgegradete Spezies, womöglich ein Homo Obsoletus.

Der Unterschied zu den vorherigen Kränkungen? Während die drei von Freud diagnostizierten Kränkungen einen nicht beabsichtigten Erkenntnisfortschritt beförderten, strebt der Mensch heute ganz bewusst Fortschritt an. Wir glauben zu wissen und zu verstehen, was der Mensch ist, weshalb wir heute selbst die menschliche Schöpfung in die Hand nehmen. Doch diesmal wird der Mensch nicht von einem solchen narzisstischen Streben nach Fortschritt profitieren.  

Wie es heute scheint, wird diese Entwicklung auf eine von zwei Arten stattfinden: entweder durch eine digitale Superintelligenz, oder dadurch, dass der Mensch vollständig mit der Technologie verschmilzt, indem alles Sichtbare und eben auch alles Unsichtbare – was häufig unter Geist verstanden wird – sich mit einer digitalen Schnittstelle verbindet.  Die hoffnungsvolle Deus ex machina – die erstrebte Nachbildung ‘des Göttlichen’, eben die Schöpfung an sich liegt nun vermeintlich in unseren Händen.

Wenn wir uns allerdings die letzte Kantische Frage in Erinnerung rufen, gerät der blinde Fleck dieser narzisstischen Entwicklung zum Vorschein: Was ist der Mensch?  Mit einem deduktiven wissenschaftlichen Fortschrittsmodell kommen nämlich nicht nur Komplexitätsfragen und/oder ethische Fragen auf, sondern auch Fragen, wie man erkennen kann, wann das undefinierte Ziel erreicht ist? Wann sind wir angekommen? Was ist eigentlich der Mensch? 

Wir stehen als Menschheit der Herausforderung gegenüber, sicherzustellen, dass solche Entwicklungen nicht  zum Verlust dessen  führen, was wir als unser Bewusstsein bezeichnen – unsere Wahrnehmung über die eigene Wahrnehmung, die Sensationen – unsere Qualia. Selbst wenn wir in der Lage wären, eine digitale Supertechnologie zu zähmen und vollumfänglich zu verstehen, und mit ihr zu verschmelzen – indem wir eine Art “synthetische” Intelligenz entwickeln – laufen wir immer noch Gefahr, einen der Hauptaspekte dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, zu verlieren: Unsere Fähigkeit, uns selbst als denkende und fühlende Wesen wahrzunehmen und zu reflektieren. Mit anderen Worten: Der Preis für die Unsterblichkeit, Glückseligkeit und Gottseligkeit kann der Verlust über jene Wahrnehmung der Schöpfung selbst sein.

Die letzte narzisstische Kränkung wäre das aus einem so einleuchtenden wie traurigen Grund: weil es uns dann nicht mehr gäbe. Entweder buchstäblich nicht mehr, da unsere Nachfolger uns obsolet machen würden – oder zumindest nicht mehr als Spezies, die ihr Schicksal noch selbst gestalten könnte. Im griechischen Mythos starrt der eitle Jüngling Narziss gebannt in die Quelle, die sein Spiegelbild zeigt. Bei der letzten narzisstischen Kränkung wäre das Spiegelbild noch vorhanden – aber niemand mehr da, der sich darin erkennen würde. Es wäre der Verlust der Wahrnehmung unserer eigenen Wahrnehmung, die Lichter wären an, aber niemand anwesend, um sie wahrzunehmen.  Unsere Zukunft liegt aber noch in unseren eigenen Händen. Positiven Fortschritt finden wir nicht in einer technologischen Wissensgesellschaft, sondern in einer menschlichen Gesellschaft des Verstandes, in der die philosophische Frage des Menschseins und die der Kreation, die Schöpfung, unbeantwortet bleibt – die letzte narzisstische Kränkung.

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