EINGEBILDETE GESELLSCHAFT

Eingebildete Gesellschaft

In Schuttertal, einer Gemeinde im tiefsten Schwarzwald, gibt es eine kleine Grundschule, die inzwischen zu den besten Schulen Deutschlands zählt. Während in ländlichen Regionen die Schulen um die Schüler kämpfen, kommen hier die Kinder aus der gesamten Region in die knapp 3200-Seelen-Gemeinde in Baden-Württemberg. Was macht diese Schule anders?

Das Philosophieren ist ein unglaublich guter Baustein für demokratisches Lernen. Wenn wir den anderen besser verstehen, sind wir auch toleranter. (Dt. Schulpreis Grundschule Schuttertal)

In badischem Dialekt erzählt das sympathische junge Mädchen: »Mi habe drei Schulhäuser und gehöre alle zusamme und alle drei Schule philosophiere.« – Was ist Glück? Wer bin ich? Was sind Freunde? Was brauchen wir für ein gutes Leben? Die Schule ist die erste zertifizierte »Philosophierende Grundschule« in Baden-Württemberg und setzt ein gutes Beisammensein und ein wertschätzendes Miteinander als Fundament der Bildung voraus. Mit dem Projekt »Philosophieren mit Kindern« leitet die Rektorin Susanne Junker die Grundschule der kleinen Gemeinde, zu der drei Standorte, 13 Lehrerinnen und 130 Schüler gehören. »Manchmal denke ich, dass wir jetzt eine echte Auseinandersetzung haben, die uns zusammenschweißt. Dann weiß ich: Ja, das ist es wert«, beschreibt Junker die Entscheidung der Schule ihrem Philosophiekonzept zu folgen. Treffender als in der Laudatio für den Preisträger des Deutschen Schulpreises 2020 könnte es nicht beschrieben werden:

Es ist ein kleines Abenteuer in ein enges, dunkles Schwarzwald-Tal zu fahren – und dort eine höchst lebendige Schule zu erleben: Denn was an anderen Schulen oft mühsam errungen werden muss, geschieht hier selbstverständlich, weil es einfach sein muss: Inklusion, Differenzierung, individuelle Lernwege und -spuren, fördern höchst unterschiedliche Interessen und Eigenarten, Kooperation, förderndes und forderndes Arbeiten und Leisten und eine Schulentwicklung mit rotem Faden. (Dt. Schulpreis Grundschule Schuttertal)

Jedes Kind aus dem Dorf wird angenommen, jedes wird ernst genommen. Genaues Nachfragen, Zuhören und Weiterdenken wird in dieser Modellschule wertgeschätzt und eindrücklich kultiviert. Das spiegelt sich auch in der intensiven Mitwirkung der Kinder am Schulleben wider. Souverän handeln sie in Versammlungen ihre Interessen aus und übernehmen Verantwortung, regeln ihr Miteinander. Mit ihrem langen Atem und ihrem Optimismus hat die Schule eine große gemeinschaftsbildende Strahlkraft in die Gemeinde hinein und über diese hinaus – sie ist nicht nur Dorfschule, sondern eine Schulwelt.

12 000 Kilometer entfernt vom dunklen Schwarzwald auf dem sonnenreichen Bali finden wir eine andere, genauso faszinierende Bildungseinrichtung: The Green School. Sie wurde nach zwei Jahren harter Arbeit, 2008 von John und Cynthia Hardy eröffnet. Die ersten neunzig Schüler trafen auf einen mehr oder weniger offenen und freien Lehrplan über Nachhaltigkeit. Das Ziel war die Ausbildung von »Grünen Leadern« für die Zukunft unseres Planeten. Aus der ganzen Welt strömten die neuen ökologischen Hipster-Familien mit ihrem »Überall-Office« zum Herzen der Insel. Hier trifft die Philosophie eines Schmuck-Millionärs auf die natürliche Reinheit der grünen Insel. The Green School ist jedoch alles andere als ein abgehobenes philanthropisches Wohlfühlkonzept, hier steht die Zukunft der Bildung auf der visionären Agenda. Ökonomie und Ökologie gehen Hand in Hand. Ableger gibt es bereits in Neuseeland, Südafrika und Mexiko.

We strive to champion a new model of education that nurtures the whole child, giving them agency in their own lives and learning, so that they can thrive with purpose in our ever-changing world. We invite you to join our global community and discover the difference for your family. (GreenSchool Bali)

Dass den ersten Absolventen die versprochene Fortsetzung im alten System nicht leicht fiel, lag womöglich zum Teil an den utopischen Vorstellungen sowie an der Trägheit des Systems, in dem wir gefangen sind. Endliche Bildungsmodelle der »alten Schule« treffen auf eine fluide Welt. Als ich 2018 die Schule in Indonesien besuchte, wurde das Curriculum angepasst, um die Adaptionsfähigkeit und eine gewisse Systemrelevanz in der »kaputten alten Welt« zu gewährleisten. Dynamisch wurde hier mit der Starrheit der gegebenen Bildungsstrukturen umgegangen. Aus The Green School ist so eine anerkannte Bildungseinrichtung geworden. Entstanden ist ein Lehrplan für Nachhaltigkeit durch gemeinschaftliches und unternehmerisches Lernen in einer natürlichen Umgebung, in der die Kinder tagtäglich »Food-to-Table« praktizieren. Möchten sie Fleisch zum Mittagessen, müssen sie auch das Schwein selbst töten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Schüler überwiegend für alternative Ernährungsformen entscheiden. Dieses Konzept trifft auf eine große Resonanz, sodass alle Standorte inzwischen jährlich neunhundert Schüler willkommen heißen. Aus der Green School kommen selbstbewusste Changemaker, die Natur leben und denken, die aber auch Kenntnisse in den Naturwissenschaften und in Technologie erwerben. Dies wird nicht erreicht, indem einfach Klassen reaktiv von der Tafel in einen Zoom-Aufruf verschoben werden. In einer sich schnell verändernden Welt, in der nicht vorherzusagen ist, welche Technologien in Zukunft auf dem Vormarsch sein werden, müssen die Kinder lernen, sich selbst zu unterrichten, in Zusammenarbeit mit den Mitschülern nach Lösungen zu suchen und mit Neugierde den Informationsdschungel zu ergründen. Die Schüler der Green School werden nicht mit Wissen gefüttert, sondern sie erlernen Fähigkeiten und entwickeln Einstellungen und Werte. Diese bilden die Grundlage für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft in einer stärker verbundenen globalen Gemeinschaft. Solche Lichtblicke und Initiativen wecken Hoffnung. Hoffnung auf einen anderen Weg im Umgang mit Bildung.

Die unwissende Wissensgesellschaft

Auch wenn zunehmend neue Bildungskonzepte entstehen, haben wir es weltweit größtenteils mit einer Gesellschaft zu tun, die einen traditionellen Ansatz der Bildung verfolgt. In der Absolutheiten manifestiert werden, in der nicht auf das Lernen, das Miteinander oder das Wohl der zukünftigen Generationen, sondern ausschließlich auf die Optimierung des Individuums, die Vorbereitung auf Karriere und Wettkampf gegen »die anderen« Wert gelegt wird. So sind wir eingebildet. Unsere Gesellschaft ist eingebildet. Wir meinen, wir seien gebildet. Doch letztlich bilden wir uns das nur ein.

Der Begriff Bildung ist ausgehöhlt, nichtssagend. Er ist tragischerweise zu einem prätentiösen Begriff geworden. Es wird mit ihm kokettiert und schwadroniert: »Bildungsrepublik«, »Wir müssen mehr in Bildung investieren«, »Bildungsinitiative«, »Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg« … Doch all diese Aussagen führen nicht zu mehr Bildung. Sie haben mit Bildung nichts zu tun. Sie missbrauchen die Vorstellung, die mit dem Begriff Bildung verbunden ist. Die Unwissenheit macht sich deutlich. Wir leben in einer von dem Begriff und dem Verständnis für Bildung und dem damit verbundenen Ideal entkoppelten Gesellschaft.

Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet. (Friedrich Nietzsche)

Das Gegenteil von einer Bildungsgesellschaft ist die gegenwärtige Wissensgesellschaft. Die Wissensgesellschaft führt nicht zu mehr Bildung. Die zunehmende Bedeutung von Wissenschaft hat zu einem Bedeutungsverlust von Bildung geführt. Zitierfähigkeit, Gefälligkeit, populäre und monetär erfolgreiche Hypothesen überschatten die Wahrheitssuche. Das ist die große Paradoxie, mit der wir konfrontiert sind und die unser Denken vernebelt.

Doch warum ist es so weit gekommen? Im Laufe der letzten fünfzig Jahre wurde eine fatale Informationsgesellschaft geschaffen. Im Dschungel von Informationen und Daten soll nun die vorvalidierte und faktische Wissensgesellschaft durch die Technologie geschaffen werden. In den nächsten zehn Jahren gehen die Grenzkosten für Intelligenz und damit für Wissen durch eine technologisch demokratisierte Allwissenheit in Richtung null. Dass diese Entwicklung brutal und schnell ist, ist den meisten spätestens mit dem öffentlichen Einzug der KI und den ersten Erkenntnissen mit ChatGPT, Bing et al. klar.

Unser (Irr-) Glaube ist es, dass mit dem gesellschaftlichen Aufstieg des (wissenschaftlichen) Wissens die Bildung an Bedeutung gewinnt. Das Wissen in Form von Fakten, Theorien, Denkschulen und Regeln hat genau das Gegenteil bewirkt. Wir haben uns in der fatalen Informationsgesellschaft verloren, die wir durch Technologie und unsere Absolutheiten des Wissens aufrechterhalten. Jene Einrichtungen, die den Auftrag haben, dieses Wissen zu vermitteln, verstehen wir als Bildungsinstitutionen.

Doch diesem Anspruch werden sie nicht gerecht. Längst haben sich die vermeintlichen Tempel der Bildung vom Sinn ihres Daseins gelöst, um als Irrlichter eines verlorenen Bildungsgedankens zu flackern. Auf den Altären der heiligen Hallen der Informationsgesellschaft wird das statische Wissen angebetet, während dem Lebendigen noch nicht einmal Zutritt gewährt wird. Bildung braucht aber beides: das Statische und das, was es überwindet. Die sogenannten Universitäten der Informationsgesellschaft mögen zwar auf der Höhe der Zeit und eine tragende Säule der Informations-/Wissensgesellschaft sein, aber mit Bildung haben sie wenig am Hut.

Statt der Bildung hat sich die Einbildung fest in unseren Institutionen etabliert. Die Begrifflichkeit wird zum Etikett für Institutionen und Menschen. Sie ist zu einem Slogan reduziert worden, der sich festgesetzt hat. Das Label wird wichtiger als der Inhalt. In den mit Hochglanzpapier aufgehübschten Werbebroschüren, in netten Werbeclips oder auf Sweatshirts mit dem Logo der jeweiligen Alma Mater, hat die Einbildung ihren prominenten Platz gefunden. Wir werden zu Litfaßsäulen der »Bildung« – die Visualisierung der Bildung als Kompensation für das Nichtvorhandensein von Bildung. Die Einbildung ist der Todesstoß der Bildung. Statt nachhaltigem Lernen, Wachsen und Verstehen heißt es Verbildlichen und Liken. Gefällt mir, gefällt mir nicht, Schönheit vor Substanz, das Bild zählt. Sogar in der Mathematik und Physik werden ästhetische Modelle und Hypothesen vorgezogen. Wir brauchen diese Kompensation, da sie uns Stabilität und Halt gibt, aber gleichzeitig macht sie uns starr und schafft eine (trügerische) Ruhe. Wir sterben in Schönheit, leben aber nicht den Fortschritt.

Das starre Wissen, das wir in diesen Institutionen vermittelt bekommen, setzen wir absolut. Es wird für den einen (abschließenden) Test gelernt. (Befristetes)Wissen wird zur Qualifikation und Bildung zum (sozialen) Grad. Das heutige Bildungssystem ist ein endliches Modell, das auf Speichern von Daten ausgerichtet ist. Bloß sind wir Menschen als Speichermedium schlecht. Das System stellt den Lernenden in einen direkten Vergleich mit einem heute deutlich leistungsstärkeren Wissensspeichermedium, unserem allwissenden Hosentaschenkameraden mit »Connection«. Wir lernen für die Prüfung und für den Abschluss, für die Endlichkeit, leben aber in der Unendlichkeit, die ausschließlich der Tod beendet. Wir sprechen vom lebenslangen Lernen, verstehen darunter aber die Maximierung der Speichereinheiten – Prüfungen – und nicht den Weg zu einem höheren Verständnis für die Welt, in der wir leben. Speichern von Informationen für die eine Prüfung. Ein kurzfristiges abgespeichertes großes Vokabular ersetzt jedoch nie den Verstand. Die Benotung, der Abschluss, dann der Lebensbeginn.

In einer sich ökologisch wandelnden Gesellschaft entwickelt sich Wissen zum neuen Öl. Die wachsenden Ansprüche an höhere Bildung und Qualifikation begünstigen insbesondere die Hochschulausbildung. Alles zielt darauf ab, Bildungsabschlüsse zu erreichen, und wir meinen damit, wir seien gebildet. Eine Inflation der Akademisierung hat in unseren Gesellschaften Einzug gehalten. In Deutschland können ehemalige Ausbildungsberufe mittlerweile nur auf der Grundlage eines Studiums ausgeübt werden. Dass immer mehr Menschen den Zugang zu Wissen erhalten, ist überaus positiv und erfreulich. Eine Bereicherung für jeden. Und doch: Noch nie war es einfacher, etwas zu wissen, noch nie war es schwieriger, etwas zu verstehen, so die gefühlte Paradoxie.

Die Freiheit zu wissen führt letztlich in die Unfreiheit des Wissens. Wir setzen unser angeeignetes Wissen absolut und sind somit gefangen in unseren eigenen Selbstverständlichkeiten. Normiert durch unsere Denkschule, die uns zu einem akademischen Titel führt, schließen wir unsere (Aus-)Bildung ab und sehen die Welt nur noch mit dieser einen Brille. Wir festigen unser Weltbild. Durch ihre reduktive Ausrichtung macht uns dieses gefühlte Wissen blind für die Vielfalt der Weltzugänge. Wir halten diese Sichtweise für selbstverständlich und verkennen dabei die anderen Blickwinkel. Eine holistische Perspektive auf die Welt wird damit erschwert, wodurch auch unsere geistige Unabhängigkeit in eine Krise gerät. Wir sind abhängig von unserem angeeigneten Wissen. Dieses gibt uns den Rahmen vor, wie wir die Welt sehen und uns in ihr bewegen – und uns damit auch letztlich selbst sehen. Es herrscht ein Mangel an Weltverständlichkeit.

Auf die zunehmende Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft antworten wir im Rahmen der »Bildung« mit eben dieser Differenzierung und Komplexität. Wir können auf die Differenzierung der Welt nur noch kleinteilig beziehungsweise fragmentarisch reagieren. Wir versuchen, die Komplexität und Differenzierung der Welt mit immer mehr und hochdifferenzierten endlichen Bildungsabschlüssen gerecht zu werden, bei denen es lediglich um das Speichern von Informationen geht. Wir eignen uns, wie der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann eindrücklich festhält, nur noch Informationsfragmente an. Gleichzeitig verfolgen Bildungseinrichtungen das Ziel: »mehr Angebot, mehr Geld«. Die Immatrikulation wird kapitalisiert. So hat man mittlerweile das Gefühl, dass es für jeden kleinen Themenbereich einen Studiengang gibt, von Alltagskultur und Gesundheit über Technologie der Kosmetika und Waschmittel bis Spaziergangswissenschaft (Promenadologie). Die Differenzierung geht aber mit in sich geschlossenen Systemen einher, von denen wir in unserem Blickwinkel normiert werden. Wie soll eine solche Heterogenität des abgeschlossenen Wissens die Grundlage für Verständigung bilden?

Wir haben ein Bildungssystem, das mit seinen Abschlüssen fragmentarische Fachidioten ausbildet. In der Polis bezeichnete man als idiotes Personen, die sich aus öffentlichen-politischen Angelegenheiten heraushielten. Auch der gegenwärtige Fachidiot ist eine Privatperson. Er hat es sich in seinem Haus des fragmentarischen Wissens bequem gemacht und beabsichtigt nicht, die Tür zu öffnen, um in die Öffentlichkeit zu treten – ein selbst ernannter Experte, der sich bald zu einer aussterbenden Gattung zählen darf. Er will sich nicht dem Unbekannten des Öffentlichen stellen, da er Angst vor Orientierungslosigkeit hat. Die Welt ist ihm zu groß, zu komplex, zu vieldeutig, zu unklar. Das fragmentarische Wissen mit seinen spezifischen Denkmustern gibt ihm Halt und Orientierung. Diese will er nicht verlieren. Wagt er dann doch einmal den Schritt in die Öffentlichkeit, reagiert er ausschließlich konfrontativ – er ist gefangen in seiner Selbstverständlichkeit. Die durch das fragmentarische Wissen ermöglichte Orientierung führt zur Entmündigung des verständigen Menschen. Das normierte Wissen leitet ihn und schränkt ihn in seinem Denken und Handeln ein. Die Wissensgesellschaft hat folglich gegenaufklärerische Züge. An dieser Stelle sei an Immanuel Kants Definition der Aufklärung erinnert:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Immanuel Kant)

Dieses Andere, von dem Kant spricht, ist das zu einer Absolutheit erhobene fragmentarische Wissen. »Fachidioten« führen ihre Follower in die Gefangenschaft der eigenen Selbstverständlichkeiten. Diese verleiten zu einem sehr begrenzten Handeln. Die »Filter-Bubble« ist nicht nur ein Phänomen des Digitalen, sondern zeigt sich auch im Analogen, in der »Bildung«.

Die Wissensgesellschaft ist ein Produkt technologischen Optimierungsgesellschaft, in der trotz der Aktivierung und der Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, die Menschen im Wesentlichen in starre und vorbestimmte Lebensläufe gezwungen werden. Der Lebensplan steht bereits in der Kindheit fest. Man weiß, was einen im Leben erwartet – der Job wartet. So dient die sich zur Absolutheit gesteigerte Wissensgesellschaft der Förderung der Wirtschaft und des ökonomischen Wachstums. Auf einem kontrollierten und messbaren Bildungsweg begeben sich die Menschen in ein Leben der Konformität. Das ist der radikale Gegenpol zur Idee der Aufklärung. Während Bildung heutzutage gleichgesetzt werden kann mit dem erfolgreichen Bestehen von Tests, ist sie befreit von jeglicher Neugier und Kreativität. Sie tötet persönliches Interesse und das Bedürfnis ab, verstehen zu wollen. Der erfolgreiche und verwertbare Abschluss ist der Motivator auf dem »Bildungsweg«. Wenn Bildung der Ökonomie und der Förderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) dient, zahlt Bildung auf das Humankapital ein – es wird ökonomisch. Die Rolle der Bildung kann aber nicht im Kern darin bestehen, der Wirtschaft zu dienen. Bildung muss vor allem dem Menschen und dem gesellschaftlichen Zusammenleben dienen. Wir müssen also zunächst die Gesellschaft reparieren, bevor wir den Kapitalismus reparieren. Dafür müssen wir bei der Bildung beginnen.

Lob der Unbildung

Am Ende geht es eben nicht um das Gedachte oder Gesagte, sondern um das Denken an sich. Das ist Bildung. Das Problem: In der Wissensgesellschaft will niemand Fehler zugeben. Wir haben die ‘Kunst, Recht zu haben’ perfektioniert. Es geht um die Manifestierung der eigenen Meinung, um die Verabsolutierung von »Wissen«. Es geht um Ruhm, Rollen, Stimmen und Ego.

Wir müssen die Bedeutung der Wissenschaft zugunsten der Bildung eingrenzen. Das hat, wie der Philosoph Hans Blumenberg sagt, nichts mit Wissenschaftsverachtung zu tun. Wissenschaft ist für unsere Gesellschaft, für unser Leben fundamental wichtig, keine Frage, aber zur Bildung trägt sie nur einen Teil bei. Sie ermöglicht uns einen Zugang zur Welt. Wir dürfen wissenschaftliches Wissen im Rahmen von Bildung deshalb nicht absolut setzen. Denn spezialisiertes Wissen, das sich auf die Aufdeckung von Details konzentriert, kann desorientierende Wirkungen hervorbringen, weil es die allgemeine Richtung aus den Augen verliert. Die Widersprüche der Welt lassen sich mit der Wissenschaft nicht auflösen. Wissenschaftlich fundiertes Wissen kann die Selbstbildung des Menschen nicht ersetzen. Doch was heißt Selbst-Bildung und was brauchen wir dafür? Entweder wir scheiterten und wurden gezwungen, unsere Antworten anzupassen, oder wir stellen fest, dass unsere Annahmen falsch waren. Heute aber geht alles zu schnell.

Bei Krisen wird es aber transparent. Der eigene Wille zur Verbesserung, bei gleichzeitigem kritischem Umgang mit dem eigenen Wissen sowie eine große Neugierde für neue Erkenntnisse, das muss die Basis sein. Es ist nicht falsch ein Experte auf einem Fachgebiet zu sein, solange man selbst mit seinem geballten Wissens keinen Anspruch darauf erhebt ein Experte zu sein. Transparent zu kommunizieren, was man weiß und was man nicht weiß, und sich den Grenzen des eigenen Wissens bewusst zu sein, zeichnet eine Offenheit für das Nichtwissen aus. Sich die Begrenztheit des eigenen Wissens einzugestehen, charakterisiert den Geist eines professionellen Anfängers.

Der Begriff »Shoshin« (A Beginner’s Mind) aus dem Zen-Buddhismus beschreibt das Prinzip eines Ungebildeten. Die bodenständige Haltung eines belesenen Menschen, der erkannt hat, wie wenig man absolut wissen kann, oder eines Menschen, der verstanden hat, dass das Nichts als solches sowohl in der Metaphysik als auch in der Epistemologie eine essenzielle Rolle spielt. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Es darf nicht mehr vorrangig um Weitergabe der gespeicherten Informationen durch selbst ernannte Experten als moderne »Papageien« gehen. Vielmehr muss das Denken an sich in den Mittelpunkt rücken. Ein passendes Antidot hierzu und auch symbolisch für das infizierte Denken war die Verbindung zwischen Glaubensgemeinschaften und der Wissenschaft während der Impfkampagne in den USA. Evangelische Christen –mit überwiegender trumpscher Weltanschauung – stellten sich der Wissenschaft. Treffend kommentierte US-Talkshow-Moderator Jimmy Kimmel die mediale Debatte innerhalb der gläubigen Gemeinde mit: »Ich verstehe, dass sie in den Himmel wollen, aber es ist doch kein Wettkampf.« Wenn innerhalb einer religiösen Gruppe eine derartige Diskrepanz aus dem gemeinsam Gelernten entsteht, erkennen wir die Tragweite der Gefangenschaft in den eigenen Selbstverständlichkeiten.

Der Anfänger ist dem Ungebildeten nicht unähnlich. Für Hannah Arendt ist die Natalität, die Gebürtlichkeit, als Grundbedingung der menschlichen Existenz zu verstehen und beruht auf ihrer Beobachtung, dass »dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln«. Wir kommen als ungebildete Menschen auf die Welt. Wir wurden noch nicht geformt durch die Welt, durch die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen – wir können auch sagen: noch nicht gebildet. Erst in der Auseinandersetzung mit unserer Aneignung der Welt entfalten wir uns und werden zu jemandem. Wir bilden uns. Das versteht Humboldt unter Bildung. Eine Öffnung hin zur Welt: Weltverständlichkeit. Das ist das Versprechen von Bildung – das Versprechen der geistigen Unabhängigkeit. Diese steht in enger Verbindung mit dem Lernen. Jene Fähigkeit, die uns abhandengekommen ist – oder womöglich nie gelehrt wurde –, ist das Lernen an sich. Geboren werden wir als neugierig und interessiert, gelehrt wird uns der Logos. Statt für Aufklärung zu sorgen – ein echtes Enlightenment –, bewegen wir uns in Richtung eines gefilterten Endarkenment. Als Ungebildeter haben wir noch keine gefilterte Sichtweise auf die Welt und auf uns. Das ermöglicht eine ganz besondere Freiheit. Gebildet ist man dann, wenn man nicht nur durch die Wirklichkeit geformt wurde, sondern auch wenn man eine Haltung repräsentiert, die den Ungebildeten kennzeichnet. Diese Widersprüchlichkeit zeichnet den Gebildeten aus.

In einer Wissensgesellschaft, in der das eigene Wissen für Bildung gehalten und absolut gesetzt wird, ist die Unbildung der einzige Weg zur Bildung. Wenn wir Wissen mit Bildung gleichsetzen, kommen wir nicht darum herum, alle in uns den Ungebildeten zu aktivieren. Warum sollten wir das tun? Die Geistes- und Werthaltung des Ungebildeten zeichnet den Gebildeten in der heutigen Wissensgesellschaft aus. Das Bedürfnis zu wachsen, der kritische Umgang mit dem Bestehenden und die Neugier und Offenheit für das Andere sind die Attribute, die einen gebildeten Menschen charakterisieren. Doch diese Attribute haben in der Wissensgesellschaft, in der das eigene Wissen absolut gesetzt wird, an Bedeutung verloren.

Das Wissen zu fetischisieren, kennzeichnet Theodor W. Adorno, einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie (auch unter Frankfurter Schule bekannt), den sogenannten halb gebildeten Menschen aus. Der halb gebildete Mensch hat sich zwar dasselbe Wissen angeeignet, über das auch ein Gebildeter verfügt—der halbgebildete Mensch versteht es aber nicht, Phänomene in ihrer Lebendigkeit zu begreifen. stattdessen geht er mechanistisch an diese heran. Der Halbgebildete ist starr in seinem Denken und Wissen. Er versteht es nicht, das Wissen in größere sinnhafte Zusammenhänge einzuordnen. Stattdessen ist es ein halb verdautes Wissen um seiner selbst willen. Bildung, die sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden, nämlich Geisteskultur als Selbstzweck. Bildung wird so zur Attitüde, zum bloßen Aushängeschild gesellschaftlicher Zugehörigkeit in unserer Gefälligkeitsgesellschaft der Selbst-Optimierung. Das bloße fetischartige Sammeln von Highlights geistiger Erkenntnisse ersetzt das durchdringende Verständnis aus konkretem, sachlich motiviertem Weltinteresse. Eine derartige Bildung ist starr, sie entbehrt jeglicher Dynamik, Lebendigkeit.

Der halb gebildete Mensch, der sich an seinem eigenen Wissen ergötzt, ist ein Narzisst. Er ist folglich voreingenommen in seinem Blick auf die Welt. Er betrachtet die Welt nur vor dem Hintergrund seines eigenen Wissens. Das wiederum unterscheidet ihn vom Ungebildeten. Dieser schaut auf die Welt mit einem unvoreingenommenen Blick und ist frei von jeglichem Narzissmus. Das bloße Nichtwissen gestattet ein solches unmittelbares Verhältnis zur Welt. Der Nichtwissende lässt sich auf die Welt ein und wird nicht durch seine Denkstrukturen eingeschränkt. Das Verhältnis zur Welt erscheint dem Ungebildeten freier. Er erkennt die Widersprüche und die Gleichzeitigkeiten, die unsere Wirklichkeit gestalten.

Unsere gegenwärtige Zeit ist jedoch zu sehr auf geistige Anpassung ausgerichtet, die Ressentiments schürt. Der narzisstische Wissende steht dem Anderen mit Abneigung gegenüber. Dieses Andere stellt ihn bloß in seinem Nichtwissen, vor dem er sich mit seinem Kapuzensweatshirt mit Uni-Logo schützt. Daher entwickelt der Halbgebildete ein Ressentiment gegen jegliches Unwissen, gegen das Unbekannte. Diese von Ressentiment geprägte Haltung verhindert die Offenheit dem Anderen gegenüber. Diese Offenheit hat auch etwas mit Mut zu tun, denn sie steht in einem engen Zusammenhang mit der eigenen Verletzbarkeit. Indem ich offen für das Andere bin, für das noch nicht Gewusste, bin ich auch offen für die eigene Veränderung – für die Transformation des Bestehenden. Der vermeintlich Gebildete weist diesen Mut nicht auf, weil er sich aus seiner Perspektive damit nicht nur mit seinem Nichtwissen bloßstellt, sondern vor allem, weil er sich nicht verletzbar machen möchte. Er möchte seine eigenen Selbstverständlichkeiten, in denen er es sich bequem gemacht hat, nicht aufgeben.

Für Adorno bezeichnet Bildung ein Spannungsgefüge beziehungsweise eine Dialektik zwischen den zwei Momenten Geist und Anpassung; zwischen der geistigen Unabhängigkeit von gesellschaftlichen oder natürlichen Zwängen und der wechselseitigen Einbindung der Menschen in die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse. Es besteht aber die Gefahr, dass sich eines dieser beiden Momente vom anderen ablöst, dass Bildung suggeriert wird und zur Halbbildung verkommt. Wir brauchen Wissen, wir brauchen aber auch das Nichtwissen, die Offenheit in jeglicher Hinsicht – die geistige Offenheit. Dieses dialektische Spannungsgefüge wird mittlerweile zutiefst von der Seite der Anpassung überschattet. Es gibt ein grundlegendes Ungleichgewicht.

Bildung ist folglich von einem Streben nach Balance gekennzeichnet. Genauer ausgedrückt: Bildung zielt auf ein dynamisches Äquilibrium. Dies lässt uns werden, ermöglicht Veränderung, den Prozess. Bildung ist folglich ein permanentes Werden. Dafür braucht es die Starrheit und die Dynamik. Wir brauchen das starre Wissen genauso wie den kritischen Umgang mit dem Wissen und die Offenheit für das Neue, das Andere – die Unabhängigkeit. Letzteres zeichnet den Ungebildeten aus. Wir müssen danach streben, uns zu bilden. Aber gleichzeitig dürfen wir die Haltung, die mit der Unbildung einhergeht, nicht verlieren. Nur die Haltung der Unbildung führt letztlich zur Bildung. Unbildung und Bildung stehen somit in einem dialektischen Verhältnis zueinander.

Bildung ist ein offener Prozess, sie ist von einer Weltzugewandtheit durchzogen. Durch die Welt werden wir. In der Auseinandersetzung mit der Welt erfolgt die Entfaltung. Wir bilden uns, erreichen aber nie ein Ende. Wir werden die Welt und uns selbst nie vollumfassend verstehen. Wir sollten es aber versuchen.

Damit wird deutlich, dass allein der Begriff Bildungsabschluss, den man mit den mittlerweile inflationär vergebenen Bachelor- und Masterabschlüssen verteilt, ein Widerspruch in sich ist. Wie kann man mit etwas abschließen, das gar nicht abgeschlossen werden kann? Das geht nur in einer Welt, in der wir nicht begriffen haben, was Bildung bedeutet. Humboldts und Arendts Weltverständnis implizieren Bildung als Prozess. Bei beiden kann Bildung nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als erreicht betrachtet werden. Bildung ist ein offenes Modell oder wie Hans Blumenberg sagt: »Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont«. Und der Horizont ist die Welt. Da Bildung vor diesem Hintergrund nicht als etwas Endliches verstanden werden darf, wird sie zum Selbstzweck: Bildung muss folglich als etwas Unendliches verstanden werden. Leitbegriffe sind Emanzipation und Autonomie. Insbesondere der Bildungsbegriff der Aufklärung war, als »Motor der Emanzipation (gedacht), Voraussetzung für den Ausgang des Menschen aus einer wie auch immer verschuldeten Unmündigkeit«. Noam Chomsky verwendet hierfür eine treffende Anekdote eines langjährigen MIT-Kollegen, der auf die Frage der Studienanfänger, was sie im ersten Semester alles abdecken müssten antwortete: »It is not important what we cover, but what you discover.« (Es kommt nicht darauf an, was Sie abdecken, sondern was Sie entdecken.)

Weltbildung

Unsere Bildungsinstitutionen sind nach hierarchischen Modellen der industriellen Revolution gebaut. Militär, Verwaltung, Bürokratie und Rollen/Hierarchie dienten hierfür als Blaupause. Die Gebäude haben ihre Vorbilder in Kasernen, Gefängnissen und Fabriken als Strukturierungsprinzip für das Handeln der Menschen. Das Bildungssystem ist auf Mittelmaß sowie Standardisierung und Nummerierung ausgerichtet. So werden allerdings nicht die Offenheit, die Neugier und das Interesse jedes Einzelnen gefördert, die grundlegend für Bildung sind. Es macht keinen Sinn, dass alle Schülerinnen und Schüler heute in der Schule mit gleicher Geschwindigkeit und auf dieselbe Art und Weise Mathematik und Sport, Musik und Kunst lernen … Doch so scheinen wir heute Bildung zu verstehen. Als Vater einer Tochter, die mittlerweile auf dem Gymnasium ist, stelle ich mir häufig nicht nur die Frage, warum so gelernt wird, sondern auch warum überhaupt bestimmte Stoffe, die in der Schule gelehrt werden, gelernt werden müssen. Es muss doch um viel mehr gehen als um das Aneignen von Wissen? Wir brauchen zwar Wissen, aber das reicht nicht aus, wenn wir es unseren Kindern ermöglichen wollen, sich zu bilden.

Wir müssen Bildung radikal neu denken. Radikal deshalb, weil Bildung in der Wissensgesellschaft auf Wissen reduziert wird. Wir brauchen dringend die Haltung des Ungebildeten. Mehr Unbildung für die Bildung. Unsere Bildungsinstitutionen müssen den Mehrwert der Unbildung für sich erkennen. Einen auf den ersten Blick größeren Widerspruch kann es nicht geben. Letztlich ist es nur ein vermeintlicher Widerspruch, den wir leben müssen, um den Weg zu einem dynamischen Äquilibrium einzuschlagen. Es muss Aufgabe der sogenannten Bildungsinstitutionen sein, diesen Weg der Balance aus Bildung und Unbildung zu ermöglichen.

Letztlich geht es um das Lernen an sich – wir müssen lernen zu lernen, aber auch lehren zu lehren. Bildung ist frei und offen auf die Zukunft hin ausgerichtet. Der Einzelne muss dazu befähigt werden, selbstständig zu lernen. Das ist die Grundlage, sich der Zukunft zu öffnen. Bildungsinstitutionen müssen den einzelnen Menschen befähigen, diesen Weg des Lernens zu gehen. Und das heißt, es muss gelernt werden, zu verstehen, zu denken, zu reflektieren. Der Weg des Lernens ist der jeweilige Lebensweg. Das ist lebenslanges Lernen.

Das lebenslange Lernen nach antiker Tradition hinterfragt immer das eigene Wissen und ist offen für Veränderungen. Es stellt sich somit selbst zur Disposition. Das Verstehenwollen und das Reflektieren sowie Revidieren von Bestehendem sollten wir als unseren Antrieb begreifen. Das sollten Bildungsinstitutionen als ihren Zweck verstehen und vermitteln, denn sie müssen sich als humanistisch begreifen. Ihr Auftrag hat das Leben des einzelnen Menschen als Grundlage. Doch durch ein »Reförmchen« können wir unsere Bildungsinstitutionen nicht dazu bringen. Wir müssen bei 0 beginnen. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty plädiert für einen bildenden, anstelle von einem erkenntnistheoretischen Ansatz. Diese Einteilung stellt das Problem dar, mit dem wir uns, wenn es um Bildung geht, konfrontiert sehen. Die erkenntnistheoretische Philosophie ist auf Begriffsklärung aus, während die bildende Philosophie in der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Denkhorizonten angesiedelt ist. Sie ermöglicht die Fähigkeit zur Duldung von Vielfalt. Sie ist von einem offenen Blick für das Andere charakterisiert. Sie blickt auf einen weiten Horizont. Dieser ist die Welt, in der wir leben. Dabei ist das Interesse an Erkenntnis immer schon gegeben. Es grenzt also den Anspruch der erkenntnistheoretischen Philosophie nicht aus. Stattdessen integriert sie diesen Anspruch. Denn in der bildenden Philosophie geht es um das Verstehen. Aber das Verstehen ist viel weiter gefasst als im Rahmen der erkenntnistheoretischen Philosophie. Es sieht die Vielfalt der Welt. Richard Rorty schreibt:

Das Unternehmen, (uns und andere) zu bilden, kann in der hermeneutischen Tätigkeit bestehen, Verbindungen zwischen unserer eigenen Kultur und irgendeiner exotischen Kultur oder Geschichtsepoche herzustellen oder zwischen unserem eigenen Fach und einer anderen Disziplin, die mit einem inkommensurablen Vokabular inkommensurable Ziele zu verfolgen scheint. (Richard Rorty)

Bildung soll uns damit, so Rorty, »aus unserem alten Selbst herausführen, dazu beitragen, dass wir andere Wesen werden«. Bildung wird hier folglich als ein Prozess, als ein Weg verstanden. Ein Weg, der nicht abgeschlossen werden kann. Das unterscheidet auch den bildenden Philosophen von den systematischen Philosophen:

Große systematische Philosophen bauen wie große Wissenschaftler für die Ewigkeit. Große bildende Philosophen zertrümmern um ihrer eigenen Generation willen. Systematische Philosophen möchten ihr Fach auf dem sicheren Pfad einer Wissenschaft führen. Bildende Philosophen wollen dem Staunen seinen Platz erhalten wissen, das die Dichter manchmal hervorrufen können—dem Staunen, dass es etwas Neues unter der Sonne gibt, etwas, das nicht im genauen Darstellen des schon Vorhandenen aufgeht, etwas, das (zumindest im Augenblick) nicht zu erklären und kaum zu beschreiben ist. (Richard Rorty)

Wir brauchen deshalb – wie Rorty postuliert – die bildende Philosophie, deren Horizont die Welt ist mit all ihren Widersprüchen, Gleichzeitigkeiten und dem Unbekannten als Grundlage unserer Bildungsinstitutionen. Bildung erfolgt vor dem Hintergrund unserer Welt. Bildung ist daher immer gekoppelt mit der Welt. Wir brauchen einen Neustart. Einen Ansatz, der die Diversität der Welt in den Fokus nimmt. Oder für den Anfang zumindest ein Besuch in Schuttertal oder auf Bali … Nur mit der Befreiung von unseren eigenen Selbstverständlichkeiten und der Akzeptanz und Auseinandersetzung mit gegebenen Systemen können wir zur Weltverständlichkeit gelangen. Bildung ist immer die Befreiung aus der Selbstverständlichkeit. Bildung ist folglich Weltbildung.

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