Homo Mortuus Vivens: Warum der „Tod“ des Selbst vielleicht das Einzige ist, was unsere Menschlichkeit bewahren kann

Was verlieren wir, wenn Technologie für unser Selbst ebenso grundlegend wird wie für unser Verständnis von Lebendigkeit? Verbirgt sich in dieser Verschmelzung von Geist und Maschine der „Tod“ des Menschen oder vielleicht eine Chance auf eine notwendige Re-Evolution des Menschen? Wie wird es sein, wenn wir einer hochentwickelten KI zutrauen, moralische Entscheidungen für uns zu treffen? Wie soll eine Maschine mit etwas so Zartem und zutiefst Menschlichem wie Moral umgehen? Sobald wir Maschinen volle Autonomie gewähren und die technologische Singularität erreicht ist, könnte es zu spät sein, sich noch all diese Fragen zu stellen.

Das Paradox eines technologisch-exponentiellen Zeitalters

Wir leben in einer Epoche, in der das exponentielle Wachstum der Rechenleistung unser Selbstverständnis radikal verändert hat. Wenn die technologische Singularität den Punkt markiert, an dem KI die Intelligenz der Menschheit übertrifft, dann definiert sie zugleich eine Art „Apokalypse“ für den Menschen in seiner bisherigen Form, den Homo Vivens – das Wesen, das durch unveränderte biologische Grenzen, autonome Entscheidungsfindung und den oft chaotischen, zutiefst persönlichen Lernprozess geprägt ist.

Früher, in vermeintlich einfacheren Zeiten, empfanden wir unsere Grenzen – Sterblichkeit, Fehlbarkeit, Vorurteile – als unverrückbare Konstanten. Wir haben Kunst, Städte und Gesellschaftsverträge um diese Einschränkungen herum aufgebaut. Doch nun zwingt uns jeder Sprung in der KI-Entwicklung, den Grundstein unseres menschlichen Daseins neu zu hinterfragen. Verlieren wir vielleicht jenes wesentliche menschliche Leuchten, wenn wir Maschinen das Denken für uns überlassen?

Steuern wir auf eine Art „Zombie-Apokalypse“ zu, ein Ende des Menschseins so wie wir es kennen? Oder kann aus den Trümmern dieser Entwicklung etwas Neues entstehen?

AGI: Das verstörende Ende des Homo Vivens

Ersetzen wir „Trümmer“ durch das Schreckgespenst der Allgemeine Künstlichen Intelligenz  (AGI: Artificial General Intelligence) – Maschinen, die nicht nur memorieren, kalkulieren oder vorhersagen, sondern fantasieren, Entscheidungen treffen – und das auf eine Weise, die unsere menschlichen Fähigkeiten überragt. Es wäre das ultimative Eintreffen einer vollkommen neuen Größe in unserer Welt.

Die Bedrohung ist existenziell. Über Jahrhunderte haben wir Menschen uns ins Zentrum jeder moralischen, kreativen und philosophischen Frage gestellt. Wir besetzen die Bühne, schreiben das Stück, sprechen die Dialoge. Wenn nun AGI diese Bühne betritt und sich als kreativer, analytisch tiefer und problemlösungsfähiger erweist, verlieren wir dann unsere Rolle als Protagonisten? Verschwindet der Homo Vivens still und leise von der Bildfläche?

Manche betrachten den Aufstieg von AGI als Fanal, sich mit dem „Tod“ unseres menschlichen Selbst abzufinden. Aber wie bei jeder Trauerrede mischen sich hier Wehmut und Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Möglichkeit, das kleinere Selbst hinter sich zu lassen zugunsten von etwas Größerem – sofern wir es schaffen, technologischen Fortschritt so zu gestalten, dass dieser das uns dient, anstatt das uns zu verdrängen.

AHI: Weiterentwicklung statt Kapitulation

In unserem bald erscheinenden Buch – Singularity Paradox – schlagen Quantenphysiker Dr. Florian Neukart und ich einen anderen Weg vor: die Weiterentwicklung durch Artificial Human Intelligence (AHI). Anders als AGI, das Intelligenz gewissermaßen aus dem Nichts erschaffen will, setzt AHI auf eine schrittweise Erweiterung unseres Geistes durch Implantate, Nanobots und neuronale Prothesen. Anstatt einen neuen Stern zu erschaffen, der uns überstrahlt, verbinden wir sein Licht mit unserem eigenen.

Dieses Konzept zielt nicht darauf ab, die Menschlichkeit zu umgehen, sondern sie zu verstärken. Stell dir eine Musikerin vor, die ein Gehirnimplantat trägt, das sie bei komplexen Akkordstrukturen unterstützt. Sie bleibt im Kern ein kreativer Mensch – mit ihrem einzigartigen Stil und ihrer unverwechselbaren Identität – gewinnt jedoch zusätzliche Freiheit von technischen Beschränkungen und kann so neue Ausdrucksformen erschließen.

AHI bewahrt theoretisch unser Selbstverständnis als zentralen Ausgangspunkt. Es erkennt an, dass uns nicht nur reine Rechenleistung ausmacht, sondern auch das fragile Zusammenspiel aus Persönlichkeit, Verletzlichkeit und ethischer Intuition. Indem wir Technologie nutzen, um genau dieses Zusammenspiel zu erweitern, schützen wir den innewohnenden Wert des Menschseins – und dehnen zugleich seine Grenzen weiter aus.

Ein fragiles Gleichgewicht: Die zarte Dialektik

Die Spannung zwischen AGI und AHI spiegelt ein größeres philosophisches Rätsel wider: Sollten unsere technologischen Ambitionen über uns hinauswachsen, oder sollten sie sich auf uns konzentrieren?

  1. Ethik und Technologie: Je autonomer KI wird, desto dringlicher werden Fragen nach Kontrolle und moralischer Ausrichtung (Alignment). AHI, das die Menschen direkt einbezieht, hilft möglicherweise, Technologie an unseren sich weiterentwickelnden Werten auszurichten.

  2. Fortschritt und Werte: Jeder große Sprung birgt die Gefahr, unsere Grundsätze zu überholen. Wenn wir etwas derart Fortschrittliches erschaffen, dass wir es nicht mehr zügeln können, droht der Verlust unseres moralischen Fundaments. Eine graduelle Entwicklung durch AHI könnte einen Weg aufzeigen, unsere Werte im Einklang mit neuen Fähigkeiten zu aktualisieren.

Wir stehen vor einer echten Dialektik: Vorwärtspreschen, nur um uns selbst von AGI in den Schatten stellen zu lassen? Oder uns im Gleichschritt mit neuen Technologien weiterentwickeln und darauf hoffen, dass unser Selbstverständnis Bestand hat? Das Ergebnis ist keineswegs vorbestimmt. Es hängt von den Entscheidungen ab, die wir jetzt treffen – in Laboren, Vorstandsetagen und sogar in Wohnzimmern, wo Kinder Sprachassistenten um Mathe-Nachhilfe bitten.

Die Re-Evolution des Menschseins: Der Homo Mortuus Vivens

Was wir wahrnehmen, ist real. So verspürt der Mensch mit seinem ‘Smartphone’, seiner ‘Smartwatch’ oder seiner VR-Brille, bereits heute die erste Verwandtschaft mit dem Homo Mortuus Vivens – dem aktualisierten, teils „postmortal“ gewordenen Menschen, der eine ältere Form des Lebens zugunsten einer neuen aufgegeben hat. Trotz seines düsteren Namens geht es dabei weniger um ein Ende als um eine Weiterentwicklung.

Der Homo Mortuus Vivens verkörpert den Menschen von morgen, der erkennt, dass die Grenze zwischen Technologie und Biologie verschwimmt – vielleicht sogar verschwindet. Die alten Rahmenbedingungen, die das Leben einst strukturierten, wie etwa die Unvermeidlichkeit des biologischen Todes, könnten sich drastisch verschieben. Doch ebenso könnte sich unser Sinn für Zweck und Bedeutung wandeln.

Anfangs mag diese Umwälzung erschreckend wirken. Schließlich haben wir ganze Philosophien, Religionen und Gesellschaftsstrukturen auf unsere eigene Fragilität gegründet. Doch was wäre, wenn wir dieses neue Potenzial nutzen, um unsere moralische Vorstellungskraft zu erweitern, unser rationales Mitgefühl und unseren Verstand zu vergrößern, unsere Kreativität zu verstärken und scheinbar unlösbare Herausforderungen doch zu bewältigen?

Der zentrale Imperativ: Unsere menschliche Essenz bewahren

Vor allem steht die philosophische Kernfrage im Raum: Wie können wir uns neu erfinden, ohne das Selbst zu verlieren? Die Herausforderung besteht darin, bei der Erweiterung unseres Geistes die grundlegende Flamme zu bewahren, die uns neugierig, mitfühlend und zutiefst miteinander verbunden sein lässt.

Wenn die Zukunft verlangt, dass wir als unsere alten Selbst „sterben“, müssen wir diesen Wandel nicht als bloße Kapitulation vor der Technik verstehen, sondern als einen bewussten, ethisch geleiteten Schritt.

AHI erweitert unsere Möglichkeiten, ohne uns die Menschlichkeit zu nehmen. AGI hingegen könnte etwas völlig Neues schmieden – eine Intelligenz mit eigenem Programm. Doch in beiden Wegen liegt dieselbe Aufgabe: zu entscheiden, ob wir an uns selbst und unseren ethischen Verpflichtungen festhalten, in einer Welt, die unsere einst selbstverständlichen menschlichen Formen rasch überflügelt.

Ich vermute, der letzte Triumph des Homo Vivens wird darin liegen, dass wir – selbst in unserem begrenzten biologischen Zustand – vor der Zukunft stehen und uns jene zeitlose Frage stellen, die eine Maschine vielleicht niemals ganz würdigen kann: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Doch solange es noch eine weitere Frage zu stellen gibt, besteht Hoffnung – und vielleicht auch Licht.

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